Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Fall bewusst geworden. Die Schwingen gehörten zu seinen empfindsamsten Körperteilen, selbst wenn er sie eingezogen trug. Nachdem er sich gelöst neben mich gelegt hatte, waren sie wie durch Zauberhand wieder zu Tuschezeichnungen auf seinem Rücken geworden. Es hatte mir einen Stich versetzt, weil mir klar geworden war, dass er einen Teil seiner selbst nicht nur vor der Welt, sondern auch vor sich selbst verbarg. Trotzdem hatte ich geschwiegen und mich damit getröstet, wie glücklich und zufrieden er meine Hände umfasste.
In Gedanken versunken klopfte ich mit dem Löffel gegen meine geschwollenen Lippen, die dankbar für das bisschen Kühlung waren. Meine Gedanken wanderten zu Sams Innenleben zurück, zu dem der Ring mir den Zugang geöffnet hatte. War es nicht der Traum eines jeden Liebespaares, einander lesen zu können? Allerdings gehörte normalerweise wohl kaum die Gefahr dazu, so tief in dem anderen zu versinken, bis es kein Ich mehr gab. Trotz des Gefühls von Auflösung würde ich nicht zögern, Sam erneut auf diese Weise zu erforschen, wenn er es bloß zuließe. Natürlich war der Ring ein Teil der Sphäre, aber mein Instinkt verriet mir, dass es noch einen anderen Grund dafür gab, dass er mich von seiner Innenwelt fernhielt: er barg Geheimnisse in ihr. Geheimnisse, wie etwa sein Zusammentreffen mit Kastor, das in seiner Erinnerung aufgeflackert war. Bislang hatte er es nicht mit einer Silbe erwähnt.
Kastor war hier gewesen, draußen vorm Wohnwagen. Sie hatten sich getroffen, einander gesehen und zweifelsohne miteinander gesprochen.
Erst als Sam aufstand, tauchte ich aus meiner Versenkung auf und stellte fest, dass er bereits nach seiner Kleidung griff.
»Nicht doch! Ich bin schon wieder ganz im Hier und Jetzt, der Zucker wirkt bereits. Also leg deine Klamotten ruhig wieder aus der Hand.«
Entschuldigend zuckte Sam mit den Schultern. »Toni kommt gerade über die Düne gelaufen, vermutlich braucht er bei irgendwas meine Hilfe. Ich werde rausgehen und ihn abwimmeln. Er hätte sich wirklich keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können.«
Automatisch richtete ich mich auf, um aus dem Fenster zu blicken – genau in der Sekunde, in der Toni in Sicht kam. Auch wenn Sam sich noch so sehr bemühte, seine Wahrnehmung würde niemals der eines normalen Sterblichen entsprechen.
Über Tonis Schulter baumelten ein paar rote, klitschnasse Chucks, deren Schnürbänder er verknotet hatte. Seppel, sein Bernhardiner, lief neben ihm her und betrachtete die Schuhe in der festen Erwartung, dass sein Herrchen sie jeden Moment wegschleudern würde, damit er ihnen hinterherjagen konnte. Selbst aus Hundesicht waren diese ollen Dinger wohl kaum noch als Schuhwerk zu erkennen.
Toni winkte, als Sam vor die Wohnwagentür trat. »Schau mal, was ich aus dem Wasser gefischt habe. Deine Chucks haben sich offenbar dringend nach einem Bad gesehnt, anders kann ich mir nicht erklären, warum sie im Meer gelandet sind.« Mit einem Schwung warf Toni sie Sam zu, der sie mit wenig Begeisterung auffing. »Ich dachte, dieses Mitbringsel stimmt dich friedlich, wenn ich dich jetzt in Beschlag nehme, obwohl du zweifelsohne gerade sehr beschäftigt bist.«
Toni winkte mir zu und ich erwiderte den Gruß ungefähr eine halbe Sekunde lang. Dann begriff ich, was für einen Anblick ich bieten musste, und tauchte bis zur Nasenspitze ab. Sicherheitshalber schlang ich mir noch die Decke um.
»Um was geht es denn?« Sam machte sich nicht die Mühe, die Ungeduld aus seiner Stimme zu tilgen.
Toni steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts, die er bei jedem Wetter trug. »Um die Paddeltour, die wir während des Niedrigwassers raus zur Sandbank machen. Dazu braucht es zwei Begleitpersonen, und der Max hatte gestern einen Entspannungstrunk zu viel, der spuckt, sobald er versucht gerade zu stehen. Also möchte ich dich bitten mitzukommen, ansonsten muss ich die Tour absagen, was wirklich schade wäre, denn das Wetter ist perfekt dafür.«
»Mag sein, aber die Tour geht gut und gern zwei Stunden«, stellte Sam fest, dann steckte er den Kopf zur Tür herein, gefolgt von einem hechelnden Seppel. »Das ist für dich zu lange, um hier zu warten, oder?«
»Eine Pause ist gar nicht so verkehrt, mit deinem Elan kann ich nämlich beim besten Willen nicht mithalten«, sagte ich leichthin. Sam wirkte so unschlüssig, da musste ich ihm die Entscheidung wohl abnehmen. »Außerdem würde Toni dich bestimmt nicht bitten, wenn er eine andere Möglichkeit
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