Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
hinauf in den Himmel, wo die letzten Sterne verblassten, auch wenn die Morgendämmerung sich noch nicht ankündigte. »Das Katana … ich würde es jetzt sehr gern prägen. Es fühlt sich alles so richtig an.«
Auch ich spürte diese spezielle Magie zwischen uns, die mir verriet, dass Sam und ich in dieser Nacht nichts falsch machen konnten und dass wir beide von demselben Wunsch beseelt waren: unsere innere Verbundenheit zu manifestieren.
»Sag mir einfach, was ich tun soll.«
Obwohl mir der intensive Blick, mit dem Sam mich nun bedachte, bestens vertraut war, begannen meine Wangen zu glühen. Als wäre er gerade dabei, Schicht für Schicht meiner Persönlichkeit freizulegen … Dann wischte er sich über die Stirn und der Eindruck verflüchtigte sich.
Mit einem schiefen Lächeln sagte er: »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du das besser weißt als ich. Wende einfach deine Gabe an.«
»Meine eigene Gabe …« Mit einem dicken Kloß im Hals dachte ich an Mael und seine Fähigkeit, aus den Splittern der Gegenwart deren Ganzes zu erfassen. Auch in mir schlummerte eine besondere Gabe, und ich hatte sie sogar schon einmal angewandt, als ich Nikolai einen Pfeil in die Haut geritzt hatte. Doch die Erinnerung daran verdrängte ich schnell und freute mich stattdessen an Sams Bitte, ihm mit seinem Katana zu helfen. Wie schnell sich die Welt doch ändern konnte. Eben noch war ich ein Mensch, der den Schattenschwingen wegen ihrer besonderen Fähigkeiten ausgeliefert war und ihnen deshalb besser aus dem Weg ging, und jetzt ein Geschöpf, das über eine eigene Gabe verfügte. Eine Gabe, deren Ausmaß noch keiner von uns beiden einzuschätzen wusste.
Ich reichte Sam meine beringte Hand, und als er sie mit seiner Linken nahm, war es, als vereinten sich die Ringe, während sie zugleich zwei Teile eines Ganzen blieben. Genau wie Sam und ich. Von dem Katana ging ein helles Summen aus und sein Glanz verstärkte sich, obwohl Sams Aura keineswegs heller leuchtete.
»Es ruft tatsächlich«, brachte ich verblüfft hervor.
»Das tut es schon die ganze Zeit. Hörst du, was es singt?«
Zuerst konnte ich es kaum glauben, aber dann nickte ich. »Es singt seinen eigenen Namen. Aber es ist kein Name, den man aussprechen kann.«
Sams Lächeln bewies, dass es ihm schon die ganze Zeit über klar war. »Es verrät uns seinen Namen, das heißt: Es singt ihn für mich – und da du zu mir gehörst, kannst du es ebenfalls hören. Sein Name hallt in uns wider und diesem Echo muss eine Form gegeben werden. Das ist eines der ältesten Rituale der Schattenschwingen.«
»Wie das Prägen einer Aura …« Die Erkenntnis versetzte mich in Unruhe, und Sam drückte sofort meine Hand, um mich zu beschwichtigen.
»Oder wie das Tragen unserer Bernsteinringe. Die Verbindung, die dadurch entsteht, ist von ihrem Kern her dieselbe. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, denn entscheidend ist, was man aus dieser Verbindung macht.«
»Und du willst wirklich, dass diese Waffe zu dir gehört? Sie strahlt eine solche Strenge aus und ich habe die dunkle Ahnung, dass du sie benutzen wirst … und zwar nicht nur beim Training.«
»Es ist mein Katana, das ist es von Anfang an gewesen.« Obwohl Sam diese Worte sanft aussprach, nahm es ihnen nichts von ihrer Entschlossenheit.
Die Entscheidung war längst gefallen – an mir lag es lediglich, zu bedenken, ob ich Teil dieses Bündnisses sein wollte … oder ob ich andernfalls damit zurechtkäme, ausgeschlossen zu sein, wenn Sam seine ersten Schritte zurück in sein Dasein als Schattenschwinge tat.
Unwillkürlich biss ich auf meine Unterlippe, als jäh der Wunsch aufkam, mehr über diesen jungen Mann herauszufinden, der hier vor mir saß und mir in solchen raren Momenten fremd erschien.
Sosehr die Bernsteinringe auch unsere Verbundenheit symbolisierten, es gab Seiten an Sam, die ich bislang nicht kennengelernt hatte. Wie etwa jene, die es ihm ermöglicht hatten, Nikolai ohne jegliche Reue zu töten oder Asami mit Gewalt zu unterwerfen. Natürlich konnte ich zu seinem Inneren vordringen, denn wenn ich eines von Nikolai gelernt hatte, dann, dass ich dazu imstande war, den wahren Wesenskern einer Schattenschwinge zu erfassen. Ich hatte auf anderen Wegen sehr viel über Sam herausgefunden, aber erst in diesem Augenblick erkannte ich: Genau wie Nikolai war Sam ein Schicksal vorgezeichnet, und wenn ich mich auf die Suche nach dem begab, was seinen Kern ausmachte, dann würde ich bei ihm dieses Katana finden –
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