Schattenseelen Roman
erneut aufeinander losgehen würden. Doch das konnte Adrián sich nicht erlauben. Bei dem Angriff auf die Feinde brauchte er die Hilfe des Clan-Oberhaupts. Also sah er davon ab, den Mann noch mehr zu reizen, und gab klein bei. Egal, was Conrad behauptete, er kannte Evelyn schließlich. Vielleicht besser, als sie sich selbst kannte. Und ein Metamorph war sie ganz sicher nicht.
Die Leichen aus dem Kofferraum in einem Wald zu bestatten, dauerte länger, als Adrián gedacht hatte. Vor allem, weil er sich die Zeit genommen hatte, sich von den Toten zu verabschieden, wie es die Hinterbliebenen nicht tun konnten. Auch wenn diese Geste von einem Außenstehenden einer Farce gleichkäme, bedeutete sie ihm sehr viel. So fuhr er erst am frühen Abend zurück nach Hamburg und erreichte den Bezirk, in dem sein Ziel lag, als es bereits dämmerte.
Im Strom der Autos und der Menschen, die, in ihren eigenen Trott versunken, zu dieser späten Stunde an ihm vorbeieilten, fühlte er sich für die anderen unsichtbar. Adrián hätte sich nicht vorstellen können, irgendwo anders als in einer Metropole zu leben, in der jeder jedem egal war, wo keiner Fragen stellte und Verbrechen geschahen, die viel grausamer waren als die, zu denen er gezwungen war, um zu überleben.
Er liebte es, durch die Nacht zu streifen. Wenn er am Tag den Schutz seiner Wohnung oder, falls er nach draußen musste, die Schatten suchte, so spendete ihm
die Dämmerung ungeahnte Kräfte. Er sehnte sich nach Dunkelheit und genoss es, die Kühle des Abends auf der Haut zu spüren. Manche Nächte verbrachte er gänzlich draußen, um die Finsternis in jede Pore seines Körpers aufzunehmen. Dann fuhr er zum Hafen und spazierte am Kai entlang, bewunderte das Funkeln der Schiffslichter im Wasser und wurde eins mit der Nacht.
Bald verließ Adrián die Straße und schlüpfte ins Treppenhaus eines Hochhauses. Das Licht im Erdgeschoss flimmerte und tat in den Augen weh. Adrián verabscheute Fahrstühle, diese Monster, die Menschen verschluckten und ratternd in ihrem Leib hinauf oder hinunter beförderten, und lief die Stufen zum 6. Stock hoch. Er musste sich zwingen, um auf die Klingel zu drücken. Eine Frau öffnete ihm, in eine Strumpfhose und einen schlabberigen braunen Pullover gehüllt, unter dem sich ihr Bauch wölbte. An ihrem Kinn zeichnete sich ein blauer Fleck ab, der sich bereits gelblich färbte.
Adrián setzte sein charmantestes Lächeln auf. »Guten Abend. Ich bin ein Freund Ihres Mannes. Ist er zu Hause?«
»Nein«, flüsterte sie, als trüge sie Schuld an diesem Umstand.
»Das ist ärgerlich. Er hat mich doch tatsächlich gebeten, noch heute vorbeizukommen. Und ich musste deswegen durch die ganze Stadt fahren. Wann ist er wieder da?«
»Das weiß ich nicht«, kam es genauso scheu zurück.
»Könnte ich vielleicht auf ihn warten?«
Er bemerkte, dass sie am liebsten Nein gesagt hätte, sich aber nicht traute. Es missfiel ihm, ihre Ängstlichkeit auszunutzen, aber mit leeren Händen zurückzugehen, konnte er sich nicht erlauben. »Ach, was soll’s. Anscheinend war es Ihrem Mann doch nicht so wichtig, wie er gesagt hat. Leider werde ich diese Woche keine Zeit mehr haben, noch einmal vorbeizukommen. Dann muss er sich eben länger gedulden. Sagen Sie ihm …«
Mit jedem seiner Worte wurde ihre Miene verzweifelter. »Nein, nein«, unterbrach sie ihn, »kommen Sie rein. Möchten Sie im Wohnzimmer auf ihn warten?«
Während die Frau ihn durch den Flur geleitete, nahm er das Flirren ihrer Lebenskraft wahr - blassblau, stumpf, ohne jeglichen Glanz. Eine schüchterne Person, die zu beeinflussen für ihn ein Kinderspiel gewesen wäre.
Im Wohnzimmer blieb die Frau stehen, als fürchte sie sich hereinzukommen, wagte es aber nicht zu gehen. Adriáns Blick wanderte ihren Körper entlang und blieb an ihrem Bauch haften. Er sah die Farben des Fötus, die in Pastelltönen schimmerten, und die dunkelbraunen Zungen, die das Kleine zu verschlingen schienen. Das deutete auf eine schwere Krankheit hin.
»Was fehlt Ihrem Baby?«, fragte er. Seine Betroffenheit musste er nicht einmal heucheln - die Leiden des kleinen Wesens gingen ihm unter die Haut.
Die Frau legte die Hände um ihren Bauch, als wolle sie ihr Ungeborenes vor aller Grausamkeit der Welt beschützen. »Der Arzt sagt … er sagt …« Sie verstummte, ohne imstande zu sein, ihren Satz zu beenden.
Adrián spürte das Echo ihres Kummers. Er war froh, diese Zweifel niemals selbst erleben zu müssen. Ein Kind in
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