Schattenseelen Roman
gegangen?«
Evelyn zupfte einen Grashalm ab und lutschte an einem Ende. »Ich beendete die Schule, zog dann weg und machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Ich wollte mit meiner Vergangenheit abschließen, nicht mehr daran denken müssen. Deshalb bin ich nie zurückgekehrt, und bis heute habe ich nicht die Kraft gefunden, meine Eltern auch nur anzurufen.«
Kilian stöhnte. Beinahe sah es so aus, als würde er weinen. »Ich bin so ein Idiot! Wie konnte ich …«
Sie stand auf, womit sie seinen Redefluss jäh unterbrach.
»Du konntest es nicht wissen. Schon okay. Du bist nicht der Einzige, der so etwas von mir gedacht hat.«
Sie wollte das Gespräch beenden und war froh, als es in der Nähe raschelte und sich aus der Dunkelheit eine Silhouette mit einem Gewehr in der Hand schälte.
»Da seid ihr! Ist alles in Ordnung?« Finn klang besorgt, aber ein Blick auf Kilian reichte wohl aus, um ihn zu beruhigen.
Evelyn schnippte den Grashalm zur Seite. »Lasst uns zum Haus gehen.«
Sie schritt voran, Finn folgte ihr. Als sie sich umdrehte, hockte Kilian noch an seinem Platz. Mit seiner massiven Gestalt wirkte er wie ein Troll, der sich in einen Stein verwandelt hatte.
22. Kapitel
A drián sah das Bambusrohr auf sich zukommen. Doch der Schlag traf ihn nicht. Wenige Zentimeter von ihm entfernt knallte das Ende gegen die Dielen. Bevor Adrián begreifen konnte, was gerade passiert war, warf Conrad seine Waffe auf den Boden.
»Ich hoffe, das war Ihnen Lektion genug.« Der Nachzehrer wirkte größer, stattlicher und auf eine erdrückende Art erhaben, als könne seine Präsenz alle und jeden unterjochen. »Sind Sie inzwischen von Ihrer Palme mit der ach so tollen Aussicht runter?« Als keine Antwort kam, streckte Conrad eine Hand aus. »Ich deute das als ein Ja. Und jetzt hoch mit Ihnen.«
Adrián nahm die Friedensgeste an, nicht ohne seinen Gegner im Auge zu behalten - das Misstrauen ganz abzuschütteln, gelang ihm nicht. Aus einem Hinterzimmer holte Conrad einen Besen und begann, die Spuren des Kampfes zu beseitigen. »Und jetzt erzählen Sie mir in Ruhe, was bei Ihrem Schwager vorgefallen ist.«
Noch traute Adrián dem überraschenden Stimmungswandel nicht, trotzdem berichtete er von dem
Mord, seinen Beobachtungen und Evelyns Verschwinden. Conrad hörte zu, ohne zu unterbrechen. Erst als Adrián von Evelyns zurückgelassenen Sachen im Garten erzählt hatte, presste Conrad die Lippen so stark aufeinander, dass sie weiß anliefen. »Sie sagen, eine Seelentier-Katze war am Tatort?«
»Ja.«
»Und dann verdächtigen Sie ausgerechnet mich?«
»Nun, auch Sie müssen zugeben, dass die Umstände nicht gerade entlastend sind.« Adrián ging zum ›Sie‹ über, was ihm erlaubte, sich von seinen eigenen Gefühlen zu distanzieren. Wie lange es ihm noch gelingen würde, seine Angst um Evelyn niederzudrücken, wusste er nicht. Vor Hilflosigkeit hätte er die Wände hochgehen können. Wenn er nicht bald eine Spur von ihr fand, würde er die ganze Stadt in Schutt und Asche legen, egal ob das etwas bringen würde oder nicht.
»Sie meinen, es waren die Metamorphe?« Alles brannte in ihm danach, endlich einen Schuldigen zu haben, an dem er seine Wut auslassen konnte. Gleichzeitig musste er zugeben, wie Recht Conrad hatte: Er konnte gut draufhauen, aber nicht nachdenken. Um ein Anführer zu sein, brauchte man mehr Fingerspitzengefühl als Muskelkraft.
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehe ich davon ab, irgendwelche Spekulationen anzustellen.« Conrad stellte die übel zugerichteten Pflanzen zur Seite und inspizierte die Bruchstellen an den Stielen mit Wehmut,
als betrachte er die gebrochenen Flügel eines Kükens.
Adrián tigerte durch den Raum und verteilte die Erde und Scherben, die Conrad zusammengefegt hatte, durch den ganzen Laden. »Wer würde sonst infrage kommen? Wenn es diese Biester waren, dann schwöre ich, sie werden es büßen!«
Conrad griff zum Besen. Als Adrián an ihm vorbeilief, senkte er den Stiel wie eine Schranke. »Um Himmels willen, Rivas, setzen Sie sich endlich. Oder haben Sie vor, bis nach China zu rennen? Was die Metamorphe angeht: Wir verfügen über keine Hinweise auf ihr Versteck.«
Adrián schwang sich auf den Tresen und ballte die Faust. Ja, sie wussten nicht, wo das Versteck der Metamorphe lag, aber er konnte es mit etwas Glück herausfinden. Obwohl ihm vor Abscheu übel wurde, wenn er nur an die Person dachte, die ihm diese Auskunft geben könnte. Hatte er sich nicht geschworen, mit ihr keine
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