Schattenseelen Roman
die Ohren zu ziehen. Vor meinem Kamin wartet ein hübsches Plätzchen auf dich.«
»Ich brauche weniger, Gran Princesa . Ihr seid nicht umsonst gekommen.«
Evelyn starrte in ihre Tasse und lauschte, doch aus dem Flur ertönte kein Laut mehr. Was machten die beiden da? Sie war bereits versucht nachzuschauen, als sie erneut die Frauenstimme hörte: »Sie ist in der Tat ein Problem.«
Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, da traten Adrián und sein Gast bereits ins Wohnzimmer. Evelyn wollte gerade versichern, dass sie ganz sicher kein Problem darstellte, verstummte aber, als ihr Sehnerv die Erscheinung neben Adrián an ihr Hirn übermittelt hatte. Sie hatte sich alles Mögliche vorgestellt, wie jemand aussah, der mit ›Ihr‹ angeredet wurde, aber garantiert nicht … das da.
Die junge Frau, höchstens 19 Jahre alt, trug ein schwarzes Korsett, das ihre Wespentaille zuschnürte, und einen knielangen Rock im Ballerina-Look. Ihre
Füße steckten in Stiefeln auf einem so dicken Plateau, dass es Evelyn schwindelig wurde, wenn sie bloß daran dachte, die Boots anzuprobieren. Ein Sommerhut schmückte ihre schwarz gefärbte Mähne mit den violetten Strähnchen. Ein Goth-Girl? Doch sobald Evelyn in die blauen Augen der Frau schaute, begriff sie, dass mehr dahintersteckte. Das runde Alabaster-Gesicht zeugte von einer leisen Schönheit, die nicht einmal ein grell-roter Lippenstift oder der fliederfarbene Glitzer-Lidschatten verstümmeln konnten. Evelyn fragte sich, was diese junge Frau unter ihrem skurrilen Outfit verbarg. Es kam ihr vor, als hätte jemand ein wertvolles Gemälde oder eine alte Fotografie verunstaltet, so ähnlich, wie Teenies Plakate von Stars und Politikern bis zur Unkenntlichkeit mit Filzstiften übermalten.
»Sie ist es nicht«, sagte die Unbekannte zu Adrián, und erst jetzt fiel Evelyn auf, dass die junge Frau sie genauso intensiv musterte. »Ich kann sie nicht spüren.«
»Sie muss es sein«, protestierte er. »Es war mir unmöglich, ihre Erinnerungen zu beeinflussen.«
»Es geht nicht bei allen Menschen gleich gut, das solltest du inzwischen wissen. Und - mit Verlaub - du bist sowieso kein großer Spezialist darin.«
»Metamorphe waren hinter ihr her.«
»Eher hinter dir. Du warst so verdammt unvorsichtig. Argh! Da denke ich noch immer über das Plätzchen vor dem Kamin nach. Bist du dir sicher, dass du all deine Spuren gut verwischt hast?«
»Sofern es mir möglich war. Bitte lasst mich ausreden … Sie muss eine von uns sein. Die Biester wollten eindeutig sie haben, sie wurde sogar …«
Evelyn hatte das Gefühl, einer Theateraufführung beizuwohnen, aus der ihre Rolle gestrichen worden war. »Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr über mich nicht wie über ein Möbelstück sprechen würdet«, fauchte sie.
»… von einer Palmlanzenotter gebissen. Einem Seelentier«, beendete Adrián seinen Satz.
Evelyn sprang auf, als wäre es gerade jetzt passiert. »Was?« Die Erinnerung an die Begegnung mit der Schlangenfrau durchzuckte ihr Hirn. Nein, das war doch bloß ein verrückter Traum! Sie schaute auf ihre Wade. Die Giftzähne hatten eine rötliche Schwellung hinterlassen. »Ich glaube das einfach nicht! Und du hast mich nicht zum Arzt gebracht?«
Die Panik durchbrach alle Barrieren und überflutete ihren Verstand. Sie fegte die Vase vom Tresen. Das Glas zerschellte auf den Fliesen. Die roten Steinchen verteilten sich zusammen mit den Scherben auf dem Boden.
Adrián kniff die Augen zusammen. »Ich bin nicht Mutter Teresa«, presste er hervor. Die Muskeln an seinem Kiefer spielten, als reiße er sich nur mit Mühe zusammen. »Gestern musste ich dir sogar etwas von meiner Lebensenergie abgeben, damit du durchkommst. Du kannst froh sein, dass ich dich da rausgeholt habe. Ohne mich hätten sie dich gekriegt!«
»Du hast mich entführt!« Sie schleuderte die Tasse nach ihm. Das Wasser übergoss das Yin-Zeichen, doch der Wurf erreichte sein Ziel nicht. Die Goth-Lady streckte die Hand aus und fing die Tasse vor seinem Gesicht ab.
»Vertragt euch, Kinder.« Sie nickte Evelyn zu. »Ich weiß, du hast viele Fragen. Nach und nach wird sich alles klären, ich verspreche es dir.«
Evelyn zitterte. Die Kraft verließ sie, und sie sank zu Boden. Tränen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte, strömten über ihre Wangen.
»Ich hätte tot sein können«, schluchzte sie.
»Das bist du auch«, hörte sie Adrián nach einer Pause sagen. »Gewissermaßen.«
5. Kapitel
V erzweifelt und gleichzeitig
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