Schattenseelen Roman
zu ihm und erfüllte ihm den Wunsch. Doch sein neu erworbenes Glück wandte sich schnell gegen ihn. Schon bald wurde sein Wille gebrochen, und er endete mit einer zerstörten Seele als Zeuge seines eigenen Wahnsinns und geistigen Verfalls. Und nachdem der Tod ihn endlich erlöst hatte, wurde er zum Schattensklaven der Mächtigen, die er einst gerufen hatte.« Er drückte Evelyns Hände so stark, dass sich die Haut unter seinen Fingern weiß färbte. Dann zuckte er zurück, selbst bestürzt von der übereilten Geste. »Es gibt keinen Weg zurück. Je früher Sie sich damit abfinden, desto einfacher wird es für Sie. Akzeptieren Sie Ihr Schicksal.«
»Und wenn nicht?« Trotzig schob sie ihr Kinn vor. »Werde ich auch zu einem Problem, das es zu beseitigen gilt?«
Conrad seufzte resigniert. »Oh je, genau aus diesem Grund bin ich nie auf die Idee gekommen, Kinder in die Welt zu setzen.« Er winkte ab und deutete auf das Bett. »Da ist jemand, der Sie sehr vermisst hat.«
Evelyn folgte seiner Geste und entdeckte einen
Transportkäfig, in dem ein schwarzes Kaninchen mit einem weißen Fleck an der Ohrspitze hockte. Fridolin! Oh Gott, wie konnte sie ihn bloß vergessen haben? Der Arme! So viele Tage allein im Käfig, ohne frisches Wasser und Heu.
Sie stieß einen erstickten Schrei aus und eilte zu dem Käfig, entriegelte das Türchen und holte sich ihren kleinen Freund auf den Schoß.
»Fridolin«, flüsterte sie und streichelte seinen Kopf. »Oh, Fridolin …« Es tat gut, ihn im Arm zu halten, setzte aber ihrem Gewissen umso mehr zu. In all der Zeit hatte sie keinen einzigen Gedanken an ihn verloren. Dabei war er ein Lebewesen, das auf sie angewiesen war! Sie seufzte. Doch das Kaninchen kuschelte sich an sie und schien ihr bereits vergeben zu haben.
Conrads Gesicht erhellte sich. »Ich dachte mir schon, dass Sie ihn gern sehen würden.«
Evelyn beäugte den Mann von Kopf bis Fuß. Auf einmal so nett - womit hatte sie das bloß verdient? »Sie sind also in meine Wohnung eingebrochen?« Sogleich durchfuhr es Evelyn siedend heiß: Er war fort gewesen! Was, wenn er sich in dieser Zeit auch um das Problem ›Hermann‹ gekümmert hatte?
»Ich wollte ein paar Sachen für Sie holen und habe ihn dabei bemerkt. Der Arme sah irgendwie traurig aus.« Mit dem kleinen Finger hob er eine Tüte mit Grünzeug vom Fußboden auf. »Ich hoffe, da ist etwas dabei, was ihm schmecken wird.«
Die Angst um den alten Professor pochte in ihrer Brust.
Conrad hob eine Braue. »Stimmt etwas nicht?«
Evelyn fischte ein Kohlrabiblatt aus der Tüte und hielt es Fridolin entgegen. Wenn sie schon den Mann nicht loswerden konnte, dann musste sie ihn wenigstens von ihren Gedanken ablenken.
»Alles hier stimmt nicht! Die Zukunft macht mir Angst. Ihr wollt mir weismachen, dass ich Menschen töten muss, um zu überleben. Das kann ich nicht.« Evelyn zwang sich, an etwas anders zu denken als an den Professor. Ihre Erinnerungen schwenkten zum Vorfall an der Bushaltestelle. Heute früh war sie kurz davor gewesen, einem Passanten die Lebenskraft zu nehmen. »Ich habe einen Mann mit einem seltsamen orange-silbernen Schimmer gesehen. Was war das?«
»Sie haben seine Lebenskraft wahrgenommen. Einige bezeichnen das Schimmern als Aura. Jeder Mensch hat eine eigene Farbe, die vieles über ihn verrät. Orange deutet auf einen großen Lebenswillen und Gesundheit hin. Für uns ein Leckerbissen.«
Evelyn schüttelte sich bei seinen letzten Worten. Leckerbissen! Als wäre die Welt nichts anderes als eine überdimensionierte Selbstbedienungstheke mit lauter Delikatessen. »Jeder Nachzehrer kann die Aura sehen?«
»Wenn er es will. Aber mit der Zeit lernen wir, sie auszublenden.«
»Und welche Farbe habe ich?«
Conrad zögerte, als wusste er nicht, ob er die Frage tatsächlich beantworten sollte. »Nachzehrer verfügen nur über Grautöne. Es ist ein stumpfes, schmutziges Flirren, das uns umgibt, da wir keine eigene Lebenskraft besitzen.«
»Aber was ist mit mir?« Sie setzte das Kaninchen auf das Bett. Sogleich machte sich das Tier über die anderen Blätter her.
»Es sieht fast so aus, als hätten Sie sich noch nicht entschieden.«
»Mich noch nicht entschieden? Für was?«
»Und manchmal, ja manchmal, haben Sie gar keinen Schein.« Er musterte sie eindringlich. »Als besäßen Sie keine Seele.«
Sie schnaubte. »Natürlich habe ich eine!«
»Natürlich.«
Evelyn knirschte mit den Zähnen. Was meinte er jetzt schon wieder damit? Sie hatte seine
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