Schattenspäher
zurückziehen konnten. Everess und seine Freunde konnten von Glück sagen, dass sie bereits auf dem Weg nach Smaragdstadt waren.
Aber dies war auch ein Tag, dem jeder Befehlshaber früher oder später einmal entgegensah. Die eigenen Männer in den Tod zu führen und um ein Wunder zu beten. Und in dem Wissen, alles getan zu haben, was in seiner Macht stand, hatte sich Mauritane fast mit der Niederlage abgefunden. Wenn sich das Blatt nicht bald wendete, musste er gar über Kapitulation nachdenken. Dann würde zwar der Krieg enden, doch einer Invasion durch die Unseelie stand nichts mehr im Wege. Seine Truppen würden den Tag überleben, und eine Unseelie-Besatzung würde nicht kampflos hingenommen werden. Selbst in der finstersten Stunde würden die Seelie einen Weg finden, Hoffnung zu schöpfen. Sie würden sich beugen, aber sie würde nicht zerbrechen.
Je weiter der Morgen fortschritt, umso schlimmer wurde ihre Lage. Die Annwni waren fast in Stellung, und waren ihre Einheiten erst mal zusammengezogen, dann bedeutete dies gleichzeitig das Ende der Seelie-Truppen. Mauritane musste sich ergeben, bevor das geschah, ehe noch mehr Leben vernichtet wurde. Er bestieg sein Pferd, fühlte sich kleiner, als er sich jemals gefühlt hatte, erbärmlicher noch, als er sich vorgekommen war, als man ihn als Verräter in Crere Sulace eingeliefert hatte. Damals war er der festen Überzeugung gewesen, dass ein Mann sich niemals miserabler fühlen könnte. Er hatte sich geirrt.
Ein düster dreinblickender Adjutant rannte auf ihn zu. »Soll ich die Flagge einholen, Sir?«
Mauritane sah ein letztes Mal den Hügel hinab. Die Bataillone der Annwni hatten sich formiert, allerdings nicht da, wo er es erwartet hatte. Dort, wo sie Aufstellung bezogen hatten, konnten sie die Seelie nicht flankieren, vielmehr war ihre Position dazu geeignet -.
Ein Horn ertönte, dann griffen die Annwni an. Doch nicht etwa Mauritanes Truppen, sondern die nun offenliegende Flanke der Unseelie. Dermaßen überrumpelt, brach heillose Verwirrung unter Mabs Kämpfern aus, und das wachsende Chaos unter ihnen pflanzte sich von rechts nach links durch die Reihen fort, während der Annwni-Verband durch die Unseelie-Truppen pflügte.
Mauritane griff nach unten und packte den Adjutanten bei der Schulter. »Befehl an die Feld-Kommandanten«, rief er. »Nach links nachrücken und den Unseelie den Rückzug abschneiden!« Der Adjutant starrte ihn aus aufgerissenen Augen an.
»Los jetzt!«, brüllte Mauritane und trat dem Mann ins Kreuz.
»Warte!«, rief er gleich darauf. »Komm zurück!« Der Adjutant wirbelte herum und tat, wie ihm befohlen. »Gib mir dein Schwert!«
»Aber ... Sir!«, stotterte der Adjutant.
»Wenn du nicht augenblicklich dein Schwert rausrückst, hol ich's mir und mach dich damit einen Kopf kürzer, Junge!«
Der Adjutant reichte Mauritane sein Schwert. Mauritane wog es in seiner Hand, wirbelte es einmal durch die Luft. Es war nicht sein Schwert, aber es musste genügen.
»Sir, Ihr könnt doch nicht einfach -«
»Meine Offiziere wissen, was zu tun ist«, erwiderte Mauritane. »Überbring ihnen meinen Befehl und sag ihnen, sie sollen ihre Arbeit machen!«
Mauritane gab dem Pferd die Sporen und stürmte aus dem Lager, wobei er den Adjutanten fast über den Haufen ritt. Er schwang das Schwert, spürte die kühle Morgenluft in seinem Gesicht. Ein wunderbares Gefühl.
Als die ersten Soldaten ihn hoch zu Ross auf sich zustürmen sahen, stimmten sie Mauritanes berühmten Schlachtruf an: »Für das Herz der Seelie!« Schon bald erschallte die Kampfparole entlang der ganzen Front. Mauritane ritt durch die Linien und der Schlacht entgegen.
Sie hatten noch eine Chance.
Aus Richtung Norden kam ein Passagierflieger herein. Er flog niedrig und auf Halbwindkurs. Mit maximaler Geschwindigkeit war er ohne Zwischenstopp den ganzen Weg von der Stadt Mab bis hierher geflogen und hatte dabei fast seinen ganzen Vorrat an Bewegung aufgebraucht. Der Pilot am Ruder hatte alle Hände voll zu tun, drehte immer wieder die Segel, so gut es in dieser geringen Höhe ging, in den Wind.
Es war eine knappe Angelegenheit, doch der Flieger schaffte es, kurz vor dem Nordtor von Elenth zu landen. Der Pilot sprang sogleich heraus; er trug eine hölzerne Kiste unter dem Arm. Der Leutnant am Tor erwartete ihn bereits und nahm die Fracht des Mannes wortlos entgegen. Sodann befestigte er die Kiste an seinem Sattel, stieg auf sein Pferd und galoppierte in die Stadt hinein, wobei er
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