Schattenspäher
Rücken des Schwans befindet sich eine kleine Öffnung. Tanen zeigt darauf und sagt: »Stecke den Schlüssel dorthinein, aber drücke dabei die Flügel nieder.«
Der Schlüssel passt perfekt, und sie dreht ihn. Zuerst in die falsche Richtung, dann macht sie es richtig. Als sich der Schlüssel im Schloss dreht, ist ein leises Klicken zu hören, so wie die Uhr klickt, wenn die Magd sie aufzieht. Sela ist es nicht erlaubt, die Uhr aufzuziehen, und sie hat sich immer gefragt, wie sich dieses Klicken wohl anfühlt. Es ist sogar noch besser als in ihrer Vorstellung; der Mechanismus im Innern des Schwans stellt ihrer Bewegung genau die richtige Menge an Widerstand entgegen.
»Überdreh ihn nicht«, sagt Tanen. »Sonst geht er kaputt.« Im letzte Moment lässt sie den Schlüssel los.
»Und jetzt stell ihn auf Tisch und sieh zu.«
Als sie den Schwan loslässt, beginnt er mit den Flügeln zu schlagen, berührt die Oberfläche mit seinen Spitzen einige Male. Dann hebt er ab, wacklig vollführt er in der Luft eine erste Drehung, dann fliegt er immer größere, immer sicherere Runden unterhalb der Zimmerdecke.
Sela lacht, klatscht in die Hände. Verzückt verfolgt sie, wie der Schwan in der Luft aufsteigt, sich dann langsam absenkt und schließlich wieder auf dem Frisiertisch landet. Seine Flügel klappern noch ein paarmal, dann tritt Ruhe ein im Raum.
»Darf ich noch mal?«, fragt sie Lord Tanen und will schon nach dem Schlüssel greifen.
Tanen schiebt seine Hand über die ihre. Die Berührung ist kalt, seine Haut fühlt sich trocken an. Dann nimmt er den Schwan, wirft ihn zu Boden und zertritt ihn unter seinem Stiefel. »Und jetzt heb die Teile auf«, sagt er.
Sela will weinen, doch sie weiß, dass eine der Vetteln sie dann bestrafen wird. Also kniet sie nieder und sammelt die Überreste des Schwans auf; winzige kleine Zahnräder, Federn und eine Metallspirale, deren Berührung brennt.
Vorsichtig legt sie die Teile auf den Tisch. Sie hätte es wissen sollen, hätte wissen sollen, dass ihr niemals so etwas wie Freundlichkeit widerfahren würde. Allein Oca war freundlich, aber das auch nur, wenn niemand in der Nähe war.
»Manche Leute«, sagt Tanen, »sind wie dieser Schwan hier. Nicht echt. Keine Elfen, sondern Maschinen. Sorgsam erschaffen erscheinen sie jedem wie einer von uns. Sie reden und weinen und bluten, und in ihrem Innern bestehen sie nicht aus Zahnrädern oder Federn, sondern aus Fleisch und Blut. Sie sind eine Kreation unserer Feinde.«
»Wie soll ich den Unterschied bemerken?«, fragt Sela atemlos.
»Ich werde sie dir zeigen.«
»Und dann?« Nicht weinen. Nicht weinen.
»Und dann wirst du sie aufhalten, so wie ich deinen Schwan aufgehalten habe. Der Schwan fühlt nichts. Er ist nichts. Er ist nur eine schlaue Maschine.«
»Manche Leute sind schlaue Maschinen«, sagt Sela.
»Ja«, sagt Tanen. »Mehr nicht.«
»Ihr sagtet, heute wäre ein ganz besonderer Tag«, erinnert ihn Sela.
»Ja, das stimmt. Die alten Weiber sagen, dass der heutige Tag von großer Wichtigkeit ist.«
Das hatten die Vetteln auch ihr gesagt, hatten gemeint, dies sei der Beginn einer großen Veränderung und dass sie sich dafür bereit machen müsse. Mehrmals täglich haben sie ihre Stirn befühlt, ihr seltsame Dinge auf den Bauch und Rücken gelegt und diese beobachtet. Und heute Morgen hat eine von ihnen den Kopf gehoben und »Es ist so weit« gesagt.
»Steh auf und kommt mit mir«, sagt Tanen. »Ich will, dass die Weiber dich noch mal untersuchen.«
Sie erhebt sich und stellt fest, dass es zwischen ihren Beinen warm und feucht ist. Etwas Dickflüssiges läuft an der Innenseite ihrer Oberschenkel herab. Sie macht einen Schritt zurück, stolpert fast über eines der Stuhlbeine. Auf dem Fußboden sind drei Blutstropfen zu sehen, sie bilden ein perfektes Dreieck.
Plötzlich wird Sela schwindlig. »Was ist geschehen?«, fragt sie. »Werde ich sterben?«
Tanen lächelt; es ist das erste Mal, dass sie ihn lächeln sieht. Doch der Anblick macht sie nur noch nervöser. »Ganz im Gegenteil, Sela.«
Er nimmt ihr Gesicht in seine Hände und sieht sie begehrlich an. »Heute hat dein Leben erst begonnen.«
Nach einem Regenguss war die nächtliche Stadt ein glitzerndes Wunderland. Kerosinlampen und Hexenlichtlaternen spiegelten sich auf dem nassglänzenden Kopfsteinpflaster wider. Das schwache Donnern des sich entfernenden Gewitters mischte sich unter das kontinuierliche Tröpfeln von den Traufen und das schmatzende Geräusch von
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