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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Madame LeCastell ausfindig zu machen, die Schwangerschaftsabbrüche für Frauen wie Mary vermittelte oder für solche, die sicher sein mußten, daß unter keinen Umständen irgend jemand davon erfuhr.
    Natalie bot Mary an, sie zu begleiten und den Eingriff zu bezahlen. »Du kannst dich bestimmt irgendwann einmal revanchieren, Mary. Jetzt stell dich nicht an und nimm das Geld!« Aber sie machte sich große Sorgen um Mary. Als sie – um sieben nach fünf – in der Marylebone Road ausstiegen, fragte sie: »Mary, willst du es wirklich? Du kannst es dir immer noch anders überlegen, das weißt du!«
    Mary fuhr herum, es war ganz ungewohnt, ihre Augen blitzen zu sehen. »Das kann ich nicht! Peter will das Kind nicht, er wird es nur schikanieren und ihm überhaupt das Leben schwermachen. Und weggehen von ihm kann ich auch nicht, mit zwei Kindern und ohne einen Beruf!«
    Fast wütend blickte Natalie in das spitze, bleiche Gesicht und dachte: So müßte keine Frau heute mehr sprechen. Die Zeiten sind vorbei. Wir sind heute unseres eigenen Glückes Schmied, du auch, liebe Mary!
    Madame LeCastell wohnte in einem schönen alten Haus, ganz oben unter dem Dach in drei winzigen Zimmern, die wohl früher einmal als Dienstbotenunterkünfte gedient hatten. Die
Wände waren so schräg, daß man nur in der Mitte aufrecht stehen konnte. Überall standen seltsame kleine Skulpturen aus Ton herum, dazwischen lagen Glaskugeln und Muscheln, rotbemalte Glühbirnen hingen von der Decke, Seidentücher in allen Farben waren über Sessel und Stühle gebreitet. Es gab kein Kissen, keinen Vorhang, keine Decke, die nicht mit voluminösen Bommeln oder Quasten verziert gewesen wären. An den Wänden drängelten sich gerahmte Fotografien: Madame LeCastell in allen Lebenslagen und Ländern, zwischen Indianern mit gekreuzten Beinen auf dem Boden hockend, mit Tropenhelm auf dem Kopf durch den Dschungel von Neu Guinea stapfend, zwischen schlitzäugigen Chinesen in den überquellenden Straßen von Hongkong und – als Gipfel des Grotesken – auf dem Rücken eines Kamels vor den ägyptischen Pyramiden. Madame LeCastell wog gut zwei Zentner, und auch die wallenden Seidengewänder, in die sie sich hüllte, konnten das nicht verbergen. Sie trug eine tizianrote Lockenperücke und um den Hals einen Silberreif, der so eng war, daß er sie zu würgen schien. Sie war erbost, daß Mary und Natalie so spät kamen. »Ich habe meine Zeit nicht gestohlen!« schrie sie. »Fünf Uhr war ausgemacht, und wann kommen Sie? Wenn der Doktor jetzt schon wieder weg wäre!«
    Wie sich herausstellte, war der Doktor noch nicht einmal da. Mary und Natalie wurden in einem der kleinen Zimmer – sie kann hier seit zehn Jahren nicht mehr gelüftet haben, dachte Natalie – auf ein Sofa gesetzt, das daraufhin mit einem Seufzer bis fast zur Erde sank. Staub stieg aus den modrig riechenden Kissen auf. Mary sah so elend aus, daß Natalie krampfhaft nach einem Gesprächsstoff suchte, der sie ablenken würde. Sollte sie ihr von Claudine erzählen? Nein, besser nicht, Mary war nicht unbedingt die Richtige dafür, und Natalie wollte sie nicht in Verlegenheit bringen.
    »David ist übrigens in England«, sagte sie, »er wollte mich treffen, aber ich habe natürlich abgesagt.«
    »Natürlich«, entgegnete Mary, und Natalie war erstaunt über den Klang in ihrer Stimme.

    Wie sie ihn haßt, dachte sie verwundert.
    Um Viertel vor sechs erschien der Arzt, den Madame LeCastell für ihre Kundinnen zu beschaffen pflegte. Er würde zwei Drittel des stattlichen Honorars einstreichen, das die Alte gefordert hatte, sie das restliche Drittel.
    »Kommen Sie mit«, sagte Madame LeCastell zu Mary. »Ziehen Sie sich aus, und legen Sie sich auf das Bett.«
    Mary erhob sich, sie zitterte wie Espenlaub. Als auch Natalie aufstehen wollte, sagte Madame LeCastell: »Sie bleiben hier.«
    »Ich bin mitgekommen, um Mary beizustehen. Ich möchte während des Eingriffs dabeisein.«
    »Dann wird der Doktor nicht arbeiten. Er läßt grundsätzlich keine Angehörigen zusehen. Ich bin da und assistiere ihm, und das reicht!«
    »Will die Dame nun oder will sie nicht?« erklang die ungeduldige Stimme des Arztes.
    »Laß nur, Natalie. Warte hier auf mich.« Mary sah aus wie der Tod, als sie ins Nebenzimmer ging. Sie durfte sich hinter einem Wandschirm entkleiden, dann kletterte sie auf das hohe Bett. Während sie sich ausstreckte, dachte sie, daß sie sich noch nie in ihrem Leben so elend gefühlt hatte. Madame LeCastell schob

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