Schattenspiel
am besten eine Woche im Bett.«
Auf einmal fühlte sich der Schweiß auf ihrem Körper kühl an, und Mary begann zu frieren. Keine zwei Minuten später schüttelte es sie vor Kälte, und ihre Zähne schlugen aufeinander.
»Wahrscheinlich etwas Fieber«, diagnostizierte Madame LeCastell. »Das ist nicht ungewöhnlich. Wird sich beruhigen.«
Schwach drang der Verkehrslärm von der Straße hinauf. Die Dunkelheit jenseits der Fenster füllte sich mit Gespenstern.
Schon glitt Mary in eine Benommenheit, die sich nicht mehr klar unterscheiden ließ: War sie daheim? Oder war sie in Saint Clare? Nein, sie war daheim, aber wo blieb der Zug, der schon längst am Fenster hätte vorbeibrausen müssen? Die Tränen traten ihr schon wieder in die Augen, weil sie nicht wußte, wo sie war. Dann neigte sich ein Schatten über sie. »Mary! Du hast es überstanden! Ich bin es, Natalie. Ich bin bei dir!« Natalie...dann befand sie sich doch in Saint Clare. Dann war alles gut. Sie griff nach Natalies Hand, ließ den Kopf zur Seite fallen – und schlief ein. Sie träumte von einem silbernen Stab, der sich in ihre Eingeweide bohrte und sich dort wieder und wieder umdrehte.
Zur gleichen Zeit saß Steve Marlowe in einem äußerst nüchtern eingerichteten Büro nahe dem Hyde Park und lauschte den Worten einer mageren, grauhaarigen Frau, die ihn mit strengen Blicken taxierte. »Nun, ich denke, Sie haben jetzt alles begriffen«, sagte sie, »und ich hoffe, daß Sie sich des Vertrauens, daß Mrs. Gray in Sie setzt, würdig erweisen!«
»Ich werde mich bemühen«, erwiderte Steve in jener höflichen, korrekten Art, die ihm eine reibungslose Bankkarriere garantiert hätte, »ich danke Ihnen für das Entgegenkommen.«
»Mrs. Gray sieht es als ihre Pflicht an, denen eine Chance zu geben, die anderswo keine bekommen«, sagte die magere Frau und strich selbstgerecht ihre schlichte, weiße Bluse glatt, die ohnehin nirgends die kleinste Falte aufwies. Sie rückte ein paar Bleistifte gerade, stellte die Vase mit den Tannenzweigen ans Fenster und erhob sich. »Dann, Mr. Marlowe, ist das von heute an Ihr Büro. Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden.«
»Vielen Dank«, sagte Steve, der ebenfalls aufgestanden war. Bei sich dachte er: Verdammte alte Hexe! Hältst dich für die größte Wohltäterin der Menschheit, und deine heilige Mrs. Gray auch, dabei tut ihr nur deshalb Gutes, um euch über die anderen erheben und sie jeden Tag von neuem demütigen zu können.
Mrs. Gray war eine reiche, alte Witwe, die in ihrer Jugend schön genug gewesen war, einen Mann für sich zu interessieren,
der ihr ein luxuriöses Leben in Glanz und Glamour ermöglichen konnte. Nicolas Gray war ein Kunsthändler aus London, der auf ominöse Weise zu sehr viel Geld gekommen war und inzwischen seine Finger in allen möglichen Geschäften hatte. Er verliebte sich in die goldlockige, blauäugige Patricia, die es verstand, kokett zu lächeln und ihn anzusehen, als sei er ein Gott, und bis zu seinem Tod ging ihm nicht auf, daß sie nicht ihn, sondern sein Geld meinte. Er hinterließ ihr ein Vermögen von ungefähr zehn Millionen englischen Pfund. Patricia war zu diesem Zeitpunkt 52 Jahre alt.
Bei Patricias Schönheit hatte es sich immer weniger um ein Geschenk der Natur als um das Ergebnis eisenharter Disziplin und der Verwendung aller nur denkbaren kosmetischen Hilfsmittel gehandelt. Den größten Teil ihrer Zeit verbrachte sie bei Kosmetikern, Friseuren, in Fitness-Studios, auf Schönheitsfarmen und unter den Händen ihres Masseurs. Vor allem aber hungerte sie. Ihre Erbanlage oder was zum Teufel auch immer dahinterstecken mochte, hatte sie als üppige, schwere, nach allen Seiten hin ein wenig überquellende Frau gedacht, und entsprechend schlug jeder noch so kleine Bissen, den sie zu sich nahm, sofort bei ihr an. Patricia aber hatte es sich in den Kopf gesetzt, einer leichtfüßigen Gazelle zu gleichen und am ganzen Körper kein Gramm Fett zuviel zu haben. Sie hungerte, sie hungerte sich fast um den Verstand; jahrzehntelang konnte sie nur mit immer größeren Mengen von Schlaftabletten einschlafen, weil sie sonst unweigerlich die ganze Nacht wach lag und Halluzinationen hatte, die von Nudelsalat in Mayonnaise und Vanillepudding mit Schlagsahne handelten.
Irgendwann nahm sie sich vor: Von dem Tag an, da ich Witwe bin, werde ich alles essen, was mir Spaß macht!
Genau das tat sie. Kaum war Nicolas unter der Erde, stürzte sie sich in all die
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