Schattenspiel
lukullischen Genüsse, von denen sie bisher nur geträumt hatte, und kein halbes Jahr später brachte sie schon dreißig Kilo mehr auf die Waage, verschenkte all die engen, teuren, figurbetonten Kleider und hüllte sich fortan nur noch in fließende Gewänder. Auf einmal war sie eine dicke, fröhliche
Frau, die sich viel wohler fühlte als zu irgendeiner Zeit vorher. Sie lebte auf einem Landgut, das Nicolas ihr hinterlassen hatte, zusammen mit einem Rudel Hunde und der griesgrämigen Miss Hunter, die als ihre Sekretärin arbeitete und ihr in jeder Weise treu ergeben war.
Nun, da ihre Zeit nicht mehr mit der Pflege ihrer Schönheit ausgefüllt war, mußte Pat Gray etwas finden, wohin sie ihre Energie richten konnte, und so entdeckte sie ihre soziale Ader. Sie beschloß, ihr gewaltiges Vermögen Hilfsbedürftigen zukommen zu lassen. Kindern. Sie hatte auf Kinder verzichtet, denn eine Schwangerschaft hätte ihrer Figur zu sehr geschadet, und im nachhinein bereute sie das bitter.
»Wie dumm ich war!« sagte sie zu Miss Hunter. »Aber jetzt werde ich wenigstens etwas für die Kinder anderer tun!«
Sie setzte sich mit dem englischen Kinderschutzbund in Verbindung, und nachdem man dort etwas zähneknirschend akzeptiert hatte, daß sie nicht bloß Geldgeberin sein, sondern aktiv mitarbeiten wollte, wurde sie in den Vorstand gewählt und durfte fortan an jeder Entscheidung maßgeblich mitwirken. Sie richtete sich ein exklusives Büro in London ein und fing an zu arbeiten. Sie lief Sturm gegen die überfüllten englischen Waisenhäuser, engagierte sich aber auch für die hungernden Kinder in der Dritten Welt. Sie reiste persönlich nach Kalkutta, sah Mutter Teresa und ihren Schwestern bei der Arbeit zu und kam tief beeindruckt zurück. »Dort müssen regelmäßig Medikamente und Nahrungsmittel hin«, sagte sie, »wir brauchen Geld, Geld, Geld!«
Ob Indien, Afrika, ob die Slums von Rio oder Hongkong, Pat Gray engagierte sich für alle. Zugleich half sie, Tierasyle in südlichen Ländern zu finanzieren, weil ihr das Elend der hungernden Hunde und Katzen ans Herz griff. Man konnte sie als Rednerin auf einer Demonstration gegen das Abschlachten der Wale oder gegen Tierversuche ebenso erleben, wie als Weihnachtsmann verkleidet in einem englischen Waisenhaus, wo sie Berge von Geschenken verteilte und dabei strahlte, als sei sie es selber, die beschenkt wurde.
»Sie ist ein Engel«, sagten die Leute von ihr, und die Regenbogenpresse jubelte: »Pat Gray – ein modernes Märchen!«
Was Steve anging, so teilte er diese Einschätzung nicht, und wenn es für ihn nur irgendeine Chance gegeben hätte, er wäre aus dem Büro und vor der eingebildeten Miss Hunter geradezu geflohen. Aber nirgends in diesem ganzen verdammten Land schien jemand bereit, ihm eine vernünftige Arbeit zu geben, und die einzige Person, die ihm hilfreich die Hände entgegenstreckte, war Pat Gray.
Wahrscheinlich bin ich für sie genau dasselbe wie ein Waisenkind oder ein herrenloser Hund, dachte er verbittert, etwas, woran sie wieder einmal ihre sozialen Zähne wetzen kann. Ex-Sträfling, der Hilfe braucht. Das hatte sie wahrscheinlich noch nicht.
Mrs. Gray hatte ihn mit den Spendengeldern betraut, das bedeutete, er war für die Buchführung, die Quittungen und die Dankschreiben zuständig. »Sie erzählten, sie wollten früher zur Bank«, hatte Pat gesagt, »dann müßte das doch genau das Richtige sein, nicht wahr?«
Genau das Richtige! Sollte er vor Dankbarkeit mit den Füßen scharren und wiehern wie ein Pferd, das ein Stück Zucker bekommt? Zu denken, daß es auch nur der mindeste Ersatz für seine verlorene Bankkarriere war, daß er hier im Büro bei diesen heiligenscheinumkränzten Betschwestern sitzen und eingehende Spenden registrieren durfte! Wurde er eigentlich auch von Spendengeldern bezahlt? Das wäre ja wirklich der Witz, das mußte er unbedingt noch herausfinden. Dann wäre er wirklich und endgültig ein sozialer Fall und könnte wenigstens nicht noch tiefer sinken.
»So...«, sagte Miss Hunter gedehnt, das hieß soviel wie: Sie können gehen.
Er machte auch brav seine Abschiedsverbeugung, nahm seinen Mantel und verließ den Raum. Als er unten auf die Straße trat, schauderte ihn – wie kalt der Dezemberabend war! Der Verkehr brandete an ihm vorüber, Auto an Auto. Wie eilig sie es alle hatten. Wahrscheinlich wartete irgend etwas Schönes auf sie – ein
gemütliches Haus, ein gutes Essen, eine Familie, Freunde... Was wartete auf ihn? Das
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