Schattenspiel
geschlossenen Räumen, und dann fing sie an, die Orientierung zu verlieren. Hier war ja auch eine Luft zum Schneiden...Sie fing an, mühsam zu atmen. Warum, verdammt noch mal, hatte sie nur nicht ein tief ausgeschnittenes Kleid angezogen, das ihren Hals freiließ? Die Bluse mit der Schleife schnürte ihr beinahe die Luft ab, aber sie konnte die Schleife doch nicht einfach öffnen.
Ihr Gesicht war feucht. Wahrscheinlich läuft mir der Puder herunter, dachte sie, und Nancy hat mich so schön geschminkt!
Trotz des Nebels, der sie umgab, registrierte sie, daß Claudine aufgehört hatte zu sprechen. Sie mußte jetzt etwas sagen. Worüber hatte Claudine zuletzt geredet? Natalie lächelte, aber – ich kann jetzt nicht die letzten 45 Sekunden nur lächeln, dachte sie.
»Vielen Dank, Madame Combe«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd klang, »ich danke Ihnen für das Gespräch.«
Vierzig Sekunden zu früh! Sie übersah die entrüstete Miene des Produzenten und seine fuchtelnden Hände. Er konnte sie mal, sie hätte jetzt bei Gott nichts mehr zu sagen gewußt. Die Jazzband war noch nicht einsatzbereit, und ein paar Sekunden lang wußte niemand, was er tun sollte. Der Kameramann nahm abwechselnd Claudine und Natalie ins Bild, aber da beide nichts sagten, gaben diese Aufnahmen nicht viel her.
Endlich setzte die Kapelle krachend mit dem ersten Ton ein, das rote Licht der Kamera, die für die Musiker zuständig war, leuchtete auf. Natalie erhob sich sofort und strebte unsicheren Schrittes zur Studiotür. Der Produzent eilte ihr entgegen. »Was war denn das?« zischte er. »Haben Sie nicht auf die Uhr geachtet? Sie waren viel zu früh fertig!«
»Tut mir leid.«
»Das darf eigentlich nicht vorkommen. Sie sind auch auf die letzte Äußerung von Claudine Combe überhaupt nicht mehr eingegangen. Ich hatte fast den Eindruck, Sie haben ihr zum Schluß überhaupt nicht mehr richtig zugehört.«
Ohne ihm zu antworten – denn dazu fehlte ihr jetzt die Kraft –, öffnete sie die Tür und trat auf den Flur.
»Miss Quint!« sagte er scharf. Einer der Kameramänner drehte sich um und legte warnend den Finger auf den Mund. Natalie kümmerte sich nicht darum. Sie stolperte den Gang entlang bis hin zu der Tür, mit der Aufschrift »Ladies Room«. Drinnen lehnte sie sich gegen die kühle, gekachelte Wand. Im Spiegel konnte sie ihr Gesicht sehen, sie war totenblaß trotz der Schminke, hatte tiefe, gelbe Ränder unter den Augen; kaputt, sie sah so kaputt aus! Die Worte des Arztes klangen in ihrem Ohr: »Sie können süchtig werden von dem Zeug!«
Sie hatte kaum mehr Kontrolle über ihre Hände, während sie
in ihrer Handtasche nach den Tabletten suchte. Als sie die Schachtel nicht sofort fand, geriet sie in Panik. Ohne eine Tablette würde sie die Minelli nicht schaffen. Sie schmiß alles auf den Boden, was ihr zwischen die Finger kam, Autoschlüssel, Portemonnaie, Lippenstift, ein Päckchen Kaugummi, Kamm, Taschentücher...endlich, zuunterst, die Tabletten. Natalie ließ Wasser in die hohle Hand laufen, schluckte die Tablette und atmete tief durch. Nun würde es ihr gleich bessergehen. Es würde nicht länger in ihren Ohren rauschen, und die Wände würden wieder gerade stehen. Sie würde ins Studio zurückkehren und die Sendung zu Ende bringen können, den Fauxpas von vorhin würde man ihr verzeihen. Im Grunde war sie gut gewesen, das Gespräch mit Claudine hatte Schwung und dennoch Tiefe gehabt.
»Ich bin gut«, sagte sie zu ihrem Gesicht, das ihr ernst und großäugig aus dem Spiegel entgegensah und allmählich wieder etwas Farbe bekam, »ich müßte nur von dem verdammten Zeug ’runter.«
Die Tür ging auf, und Claudine Combe kam herein. Überrascht blickte sie auf Natalie, die sich im Spiegel fixierte, und auf den ringsum verstreuten Inhalt ihrer Handtasche. »Ist alles in Ordnung, Miss Quint?«
Natalie zuckte zusammen. »Oh, Claudine...ja, es... ist alles in Ordnung...« Sie bemerkte, daß Claudines Blick auf der Tablettenschachtel ruhte und ließ sie rasch in ihrer Jackentasche verschwinden.
»Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht«, sagte Claudine, »in den letzten Minuten unseres Gespräches ging es Ihnen gar nicht gut. Sie sahen richtig krank aus.«
»Es tut mir leid, wenn ich unaufmerksam war«, entgegnete Natalie etwas steif. »Es ging mir tatsächlich einen Moment lang nicht so gut. Ich hatte den Faden verloren.«
»Sie waren wunderbar«, sagte Claudine warm. »Sie haben es mir so leicht gemacht.
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