Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
ihre Füße durch zwei Lederschlaufen und zog die Riemen fest. Entsetzt fuhr Mary auf. »Bitte nicht... bitte, binden Sie mich nicht fest!«
    »Keine Extrawurst für Sie, Kleine. Was meinen Sie, nachher tut’s Ihnen weh, dann fangen Sie an zu strampeln, und dann passiert noch ein Unglück. Nein, der Doktor besteht darauf, daß seine Patienten angeschnallt werden.«
    Sie lag auf dem Rücken, die Beine angewinkelt und gespreizt, ihr Leib schutzlos den kalten, blitzenden Instrumenten des Arztes ausgesetzt. Der Gedanke, daß er nun mit diesen Werkzeugen in sie eindringen und ihr Kind, dieses Kind, das sie sich so sehr gewünscht hatte, aus dem warmen Nest der Gebärmutter herauskratzen würde, trieb ihr die Tränen in die Augen. Außerdem hatte sie eine mörderische Angst.
    »Wird es sehr weh tun, Madame LeCastell?« fragte sie leise.
    »Es ist kein Zuckerschlecken, aber die Mädels vor Ihnen haben es überstanden, also überstehen Sie es auch.«
    Der Arzt hatte sich ausgiebig die Hände gewaschen und trat nun an das Bett heran. »Wie alt sind Sie?« fragte er barsch.
    »Ich bin gerade zwanzig geworden.«
    »Haben Sie schon einmal geboren?«
    »Ja, vor zwei Jahren.«
    »Hm...«
    Ist das gut oder schlecht, hätte Mary gern gefragt, aber sie traute sich nicht. Sie fühlte kaltes Metall zwischen ihren Beinen und konnte spüren, wie sich ihr Körper zusammenzog.
    »Verkrampfen Sie sich nicht!« herrschte der Arzt sie an. »Sie machen es uns beiden nur noch schwerer!«
    »Ich versuche es«, sagte Mary gepreßt. Sie versuchte es wirklich. Sie bemühte sich, an etwas Harmloses und Schönes zu denken – Sommer, Ferien am Meer, das hübsche Haus, in dem sie gewohnt hatten. Es hatte ihr Spaß gemacht, jeden Morgen mit Cathy an den Strand zu gehen und Sandburgen zu bauen und sie an den Händen zu halten, wenn sie auf das Wasser zulief und laut quietschte, wenn die Wellen an ihr hochschwappten...
    »Oh, nein...« Sie stöhnte laut auf.
    Ein Schmerz schoß durch ihren Körper, so heftig und unvermittelt, daß sie einen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. Sie fühlte, daß rechts und links von ihren Nasenflügeln Schweiß stand.
    »Psst!« zischte Madame LeCastell.
    Marys Gedanken glitten fort von den Ferien, zurück zu ihrer Zeit in Saint Clare. Das war auch schön gewesen, dort hatte sie sich manchmal sogar ganz sorglos gefühlt. Bis zu dem Abend in London. Lag es Jahre zurück, Jahrzehnte, ein ganzes Leben? Sie erinnerte sich des schrecklichen Moments, als David verschwunden war, oh, sie hatte Angst gehabt, solche Angst! War dies hier nun das Ende des Weges, der in jener Nacht begonnen hatte? Sie spürte, wie sich Zorn in ihr zusammenballte, wie eine starke, große Faust, die zuschlagen kann und will.
    Ich hasse ihn, ich hasse ihn, dachte sie, und sie wunderte sich
nicht einmal, daß ihr Haß weder Peter noch ihren Vater meinte, sondern nur David. David ganz allein. Vielleicht würde sie das hier durchstehen, wenn sie ihn mit aller Kraft, die sie nur hatte, haßte. Die Schmerzen wurden nun beinahe unerträglich. Sie strahlten bis in die Fußspitzen hinunter und bis in die Schläfen hinauf. Das Metall in Marys Innerem schien riesengroß und messerscharf, und es war kalt, so kalt! Von weit weg hörte sie den Arzt sagen: »Ich beginne jetzt mit der Ausschabung.«
    Erst jetzt merkte Mary, daß sie geweint hatte, ihr Gesicht war naß, sogar ihre Haare hatten sich an den Schläfen feucht verklebt. Sie schmeckte Blut. Hatte sie sich auf die Lippen gebissen? Die Schmerzen fluteten in Wellen über sie hinweg, aber Mary lag nun völlig unbeweglich, zu erschöpft, um sich wehren zu wollen, überzeugt, daß der Schmerz niemals enden würde, und daß es jenseits davon keine Welt mehr gab.
    »Fertig«, sagte der Arzt. Es tat noch einmal sehr weh, als er seine Instrumente aus ihr zurückzog, und danach tat es immer noch weh, aber es war nicht mehr so vollkommen unerträglich. Mary konnte sehen, daß Madame LeCastell einen ganzen Haufen blutiger Tücher davontrug und sich auch sonst eifrig zu schaffen machte.
    »Wiedersehen«, sagte der Arzt grimmig. Mary, nun nicht mehr auf sein Wohlwollen angewiesen, gab keine Antwort, sondern drehte nur den Kopf zur Seite. Wiedersehen! Nie mehr wiedersehen mochte sie ihn, solange sie lebte nicht.
    Madame LeCastell breitete eine Wolldecke über Mary und sagte: »Sie können eine halbe Stunde hier liegenbleiben, dann gehen Sie bitte. Es dürfte eigentlich keine Komplikationen mehr geben. Zu Hause bleiben Sie

Weitere Kostenlose Bücher