Schattenspiel
Himmel sandte. Lieber Gott, gib mir Zeit, nur ein bißchen Zeit, laß meinen verfaulten Körper noch ein wenig atmen...
Morgen würde er Millionär sein. Er zweifelte nicht daran, daß John Eastley ihm das Geld geben würde... Eastley...er dachte an den großen, gutaussehenden Mann. Der exzellente Columbia-Student, der brillante Jurist — Eastley, immer der Schnellste, Größte, Beste. Getrieben von einem maßlosen, unersättlichen Ehrgeiz. Diesem Ehrgeiz würde Eastley alles opfern, davon war Gipsy überzeugt, auch eine Million Dollar.
Es entging ihm nicht, daß alle Passagiere ihn verstohlen musterten. Sollten sie nur, ihm konnte es gleich sein, denn bald wäre er ein reicher Mann. Wenn es ihm in Kalifornien gefiele, mal sehen, vielleicht blieb er dann dort und mietete sich ein schickes Appartement am Meer. Er würde Champagner und die besten Weine trinken, Kaviar, Hummer und Lachs essen. Wenn es dann dem Ende zuging, wenn er nicht mehr aufstehen könnte und täglich Morphium brauchte, dann müßte er nicht in ein schäbiges Krankenhauszimmer dritter Klasse, er könnte sich eine private Schwester leisten, die rund um die Uhr für ihn sorgte. Seine letzten Tage sollten würdevoll sein. Und das alles, weil ich eine schmutzige Geschichte aus dem Leben des Mannes weiß, den ihr vielleicht einmal zu eurem Präsidenten wählt, dachte er und schaute in all die Gesichter ringsum, die ihm leer und fad vorkamen. Armselige Bande!
Die Stewardeß sagte, man sei jetzt bereit zum Einsteigen, und Gipsy humpelte dem Ausgang zu. Alle wichen unwillkürlich zurück. Dieser Gestank nach Schweiß und Fäulnis, kaum auszuhalten war das. Gipsy grinste wieder. Ob ihr noch vor mir flieht, wenn ich erst Millionär bin?
John hatte es für zu riskant gehalten, Gipsy in sein Haus kommen zu lassen. Die Gefahr, daß einer der Dienstboten etwas aufschnappte, war zu groß, und dann hatte man einen zweiten Erpresser am Hals. Es mußte ein neutraler Ort gewählt werden.
Gina, die John noch nie so nervös erlebt hatte, dachte: Lieber Himmel, du hast aber eine Scheißangst vor diesem kranken Mann aus New York!
Nach langem Hin und Her kam John schließlich auf die Idee, das Treffen auf der Farm seines Freundes in den Bergen stattfinden zu lassen. Der Freund hieß Paul, und John meinte, man könnte Paul bitten, ihnen die Farm für eine Woche zu überlassen.
»Wir sagen, wir wollen ausspannen und einmal ganz für uns sein. Paul versteht das. Ich bin sicher, es gibt keine Probleme.«
Es gab auch keine. Paul war froh, seinem alten Freund einen
Gefallen tun zu können. »Klar könnt ihr da oben wohnen, solange ihr wollt. Da seid ihr wirklich einmal ganz ungestört. Max und seine Frau kommen morgens und abends, um sich um die Pferde zu kümmern, aber die brauchen euch nicht zu stören.«
»Morgens und abends«, sagte John zu Gina. »Wir müssen sehen, daß wir Gipsy dazwischen abfertigen!«
John hatte von verschiedenen Banken Geld abgehoben und erklärt, er brauche es aus privaten Gründen sehr schnell und dringend, es gehe um eine familiäre Angelegenheit. Da er großes Ansehen genoß und man ihm vertraute, wurde nirgends lange nachgefragt. Schließlich hatte er eine Million Dollar zusammen, die er in einem schwarzen Aktenkoffer verstaute. Gina, die ihn mit dem Ding durchs Haus laufen sah, fühlte sich in einen amerikanischen Gangsterfilm versetzt. Was führten die Männer hier auf? Die Straßen von San Francisco? Einsatz in Manhattan? Dort rannte man mit geldgefüllten Aktenkoffern umher und vereinbarte geheime Übergabeorte. Warum nahmen die Männer immer ernst, was man ihnen im Fernsehen vorführte?
Am Tag bevor Gipsy eintreffen sollte, fuhren Gina und John, Lord auf dem Rücksitz, in die Berge. Es war ein wunderschöner, klarer Tag. Gina konnte sich nicht sattsehen an den Farben ringsum. Dieser herrliche, bunte, warme, kalifornische Herbst! Wilde Rosen blühten, Beeren schimmerten leuchtendrot aus den Hecken. Darüber stand der Himmel in beinahe fanatischem Blau. Die Sonne schien heiß, Gina trug nichts weiter als Shorts, T-Shirt und Sandalen. Freiheit und Schönheit der Natur wirkten auf sie stets entspannend, und sie hätte sich glücklich gefühlt, wäre ihr Blick nicht immer wieder auf Johns verkrampftes, angestrengtes Gesicht gefallen. Sie fuhren über eine einsame Landstraße, aber er sah so konzentriert aus, als chauffiere er den Wagen durch die Rush Hour von Los Angeles. Sie berührte sacht seinen Arm. »Es wird schon
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