Schattenspiel
einmal auf sich warten. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als dazustehen und wie hypnotisiert die holzgetäfelten Türen anzustarren.
»Bleibst du länger in New York, Nat? Bitte, sieh mich doch an!« Als hinge sein Leben davon ab, daß sie ihm jetzt antwortete und ihm eine Chance gab! Auf einmal war Cornwall wieder lebendig, und alles, was er damals gesagt hatte, klang in ihren Ohren. Sie begriff, was in ihm vorging. Da war seine alte Sehnsucht nach Freundschaft und Anerkennung, da war wieder das Werben um die Gunst der anderen... aber da war auch Crantock! Da waren wieder die Männer, die Maxine die Kehle durchschnitten und Duncan erschossen, die sie, Natalie, vergewaltigten. Wieder spürte sie die würgende Angst jener Nacht, ihr alptraumhaftes Entsetzen, die Ungläubigkeit, mit der sie David abhauen und sie im Stich lassen sah. Alles war ihr zerstört worden in jener Nacht, und von ihren Wunden würde sie sich nie erholen. Und sie würde David nicht vergeben, jetzt nicht und nicht in Zukunft, und sie wollte es auch nicht. Sie konnte nicht!
»Könnten wir nicht einmal zusammen essen? Nat?«
Herr im Himmel, schick endlich den Fahrstuhl!
»Oder wenigstens irgendwo zusammen einen Drink nehmen? Nur eine halbe Stunde! Natalie, kann ich dich morgen hier anrufen?«
Der Aufzug hielt, lautlos öffneten sich die Türen. Natalie stieg ein, doch ehe sie entschwebte, zischte sie David zu: »Ein für allemal, David, laß mich in Ruhe! Laß mich meinen Frieden finden, und komm mir nie wieder in den Weg!«
Solange sie lebte, hatte noch kein Mensch sie je so angeschaut: so verletzt, so getroffen und so verzweifelt.
5
Der Flug nach Los Angeles war aufgerufen. Die letzten Passagiere strömten dem entsprechenden Gate zu. La Guardia, New York, an einem Freitagmorgen, ganz normaler Betrieb, keine besonderen Vorkommnisse. Die Reisenden, die auf ihren Flug mit Delta Airlines nach Los Angeles warteten, betrachteten neugierig den kleinen Mann im schlechtsitzenden grauen Anzug, der eine blaue Reisetasche um die Schultern hängen hatte. Er ging krumm, als habe er Schmerzen, und sein Gesicht war verzerrt zu einer häßlichen Fratze. Bei jedem Schritt schwollen die Adern auf seiner Stirn an. Seine Haut war übersät mit häßlichen Ekzemen, und er stank barbarisch nach Schweiß. Eine Frau, neben die er sich stellte, drehte sich um und ging fort. »Das ist ja eine Zumutung«, murmelte sie.
Eine mitleidige Stewardeß näherte sich dem Gnom. »Kann ich Ihnen helfen? Vielleicht, wenn ich ihre Tasche ins Flugzeug trage ...«
»Nein!« fauchte er und sandte ihr einen Blick zu, so haßerfüllt, daß sie davor zurückwich. Davor, und vor seinem Mundgeruch. Konnte ein Mensch so stinken?
Gipsy grinste böse vor sich hin. Seitdem er trank, seit zehn Jahren also, putzte er sich nicht mehr die Zähne und ging auch
nicht mehr unter die Dusche. Wozu auch? Konnten ihn doch alle am Arsch lecken, alle, solche wie die Ziege, die vor ihm davonlief und solche wie diese ekelhafte Samariterin, die seine Tasche tragen wollte. Er war todkrank, er konnte sie alle zum Teufel jagen, ihm half doch niemand mehr. Aber ganz schön dumm gucken würden sie, wenn er sich in der ersten Klasse niederließe. Ja, ein First-Class-Ticket hatte er, das erwartete bestimmt niemand. Drecksbande...ließen einen verrecken und sahen in aller Seelenruhe dabei zu. Für wen hatte er denn seinen Kopf hingehalten, damals in Vietnam? Für sie alle doch, für die ganze verdammte eingebildete Nation! Wir Amerikaner! Stars and Stripes forever... Präsident Reagan war ja eifrig dabei, den Nationalstolz wieder populär zu machen. Thronte im Weißen Haus und predigte Glanz und Gloria Amerikas...Ließ sich fein predigen, wenn man zu denen gehörte, die keine Not litten. Gipsy haßte Präsident Reagan. Noch mehr hatte er Präsident Johnson gehaßt, der das Drama um Vietnam angezettelt hatte.
Er langte eilig in seine Jackentasche, zog eine Schachtel heraus, entnahm ihr eine Tablette und schluckte sie ohne Wasser. Er atmete tief. Die verfluchten Schmerzen... die Attacken kamen immer häufiger, immer heftiger. Sein Verbrauch an Tabletten war in den letzten Wochen noch einmal drastisch gestiegen. Wenn das so weiterginge, würde er bald eine Packung pro Tag verschlingen. Aber letzthin war es egal, woran man verreckte. Wenn es nur nicht so bald wäre! Gipsy hatte seit Vietnam nicht ein einziges Mal mehr gebetet, aber in der letzten Zeit ertappte er sich manchmal dabei, wie er ein Stoßgebet zum
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