Schattenspiel
komme ich dahin?«
»Immer die Straße entlang. Dann sehen Sie schon die Schilder. « Neugierig fügte er hinzu: »Sie kommen aus Amerika?«
»Ja.«
»Von wo da?«
»Aus Los Angeles.«
»Ich habe einen Onkel in Amerika. In Green Swallows. Kennen Sie den Ort?«
»Leider nein.«
Gina, die ihm ansah, daß er auf ein längeres Gespräch aus war, beeilte sich, die Scheibe ihres Autofensters wieder hochzukurbeln. »Vielen Dank!« Schon fuhr sie weiter. Rust. Sie mußte sich bereits dicht an der ungarischen Grenze befinden. Wie einsam und verlassen es hier war. Trotz der Dunkelheit konnte sie das weite, flache Land ringsum noch schwach erkennen. Ob das schon so etwas wie die Puszta, die ungarische Steppe, war? Sie dachte an hohes Gras, Salzseen, an einsame Reiter und sehnsuchtsvolle Zigeunermusik. Erbarmungslos fiel Melancholie über sie her. Warum hatte sie sich ausgerechnet hierher verirrt?
Hier kann man sich ja das Leben nehmen, dachte sie schaudernd.
Sie fand Rust, und dann auch ziemlich schnell das »Seehotel«. Ein großer, moderner Bau mit vielen Erkern und Türmen. Auf
dem Parkplatz drängelten sich die Autos, sie mußte ihren Wagen ein ganzes Stück weit entfernt parken. Hoffentlich hatten sie ein Zimmer frei. Sie war müde und sie fror. Wie kühl die Abende jetzt schon waren! Als sie das Foyer betrat, fragte sie sich, welchen Sinn es hatte, daß sie hier war, und welchen Sinn das Leben überhaupt machte.
»Wir haben tatsächlich noch ein Zimmer frei«, sagte das Mädchen hinter der Rezeption. »Geben Sie mir Ihre Wagenschlüssel? Dann kümmern wir uns um Ihr Gepäck.«
Gepäck! Jetzt erst wurde Gina bewußt, daß sie absolut nichts mitgenommen hatte. Phantastisch. So etwas machte immer einen besonders guten Eindruck.
»Ich habe kein Gepäck«, erklärte sie, »ich weiß auch nicht, wie lange ich bleibe.«
Das Mädchen schaute sie mißtrauisch an. Gina zog ihren Ausweis und ihre Kreditkarten aus der Tasche und legte alles auf den Tisch. »Hier. Damit Sie sehen, daß ich keine Hochstaplerin bin. Und jetzt geben Sie mir bitte meinen Zimmerschlüssel, ich bin entsetzlich müde.«
»Natürlich. Sie haben Zimmer 217. Dort hinten sind die Fahrstühle.«
Während sie hinauffuhr, überlegte sie, ob sie Hunger hatte, aber ihr wurde klar, daß sie keinen Bissen würde hinunterbringen können. Dieses nagende, leere Gefühl im Magen war eine Täuschung. Sie schloß die Tür 217 auf und knipste das Licht an. Ein sparsam möbliertes, aber gemütliches Zimmer mit Doppelbett, zwei Sesseln, einer Anrichte, Fernseher und Einbauschränken. Im Bad fand sie Zahnpasta, Shampoo, Seife, Schaumbad, Wattebäusche und Kosmetiktücher. Sie ließ ihre Handtasche auf das Bett fallen und trat hinaus auf den Balkon. Vor ihr lag Wildnis — sie konnte sie nicht sehen, aber spüren. Tief atmete sie die herbstliche, kühle Luft. Schon konnte man den Geruch nach welkem Laub, würzigen Beeren und Nebel in ihr ahnen.
Ich werde sterben, dachte sie, während ihre Augen in Tränen schwammen, ich werde einfach sterben.
Sie fröstelte, ging ins Zimmer zurück. Sie trug ja immer noch
das dünne, blaue Hemd von John. Sein Geruch hing in dem Stoff, das teure Rasierwasser von Oscar de la Renta, das sie ihm zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte.
Ich bin so einsam. Ich bin so entsetzlich einsam!
Im Nebenzimmer wurden offenbar Kinder gebadet, sie konnte das Planschen, Lachen, das fröhliche Geschrei durch die Wände hören. Wahrscheinlich hatten sie eine Gummiente, gelb mit rotem Schnabel, die sie zwischen den Schaumwellen schwimmen ließen. Auf einmal tauchte eine Erinnerung aus längst vergangenen Tagen in ihrem Gedächtnis auf: Großmutter Lorets holzverkleidetes Badezimmer mit dem großen eisernen, immer gluckernden, knackenden Ofen und dem kleinen Fenster über der Badewanne, die tatsächlich noch auf vier verschnörkelten Füßen stand. Das Fenster hatte sich zum Wald hin geöffnet, und der Geruch nach Rinde und Moos hatte immer den ganzen Raum erfüllt. Die kleine Gina hatte mit ihrem roten Gummifisch gebadet, den sie heiß liebte. Merkwürdig, daß er ihr heute wieder einfiel, all die Jahre hatte sie ihn ganz vergessen gehabt. Wo er sich wohl befand? Wie viele Jahre waren vergangen, seitdem sie ein Kind gewesen und alle Zärtlichkeit der Welt über ihr ausgeschüttet worden war? Voller Grauen erinnerte sie sich der langen, dunklen Tage ihrer Jugend. Sie schienen ihr wie in Nebel getaucht — Saint Clare, Tante Joyce, Charles Artany
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