Schattenspiel
aus dem Boden stampfen. Er überlegte hin und her, und nachdem er ein paar Telefongespräche geführt hatte, stand sein Plan fest. Statt Mitte September nach Seoul zu fliegen, würde er es jetzt so rasch wie möglich tun. Dann konnte er in drei oder vier Tagen zurück sein, und bis dahin wäre Gina möglicherweise wieder aufgetaucht. Sie würden heiraten und dann in die Flitterwochen fahren — nach Mexiko vielleicht, oder nach Brasilien. Oder wohin immer Gina wollte.
Seine Gesprächspartner in Seoul hatten sich nach einigem Hin und Her damit einverstanden erklärt, die Gespräche vorzuverlegen. Brent Cooper, der New Yorker Anwalt, den er zuvor konsultieren mußte, gab ebenfalls grünes Licht. Einen Platz in der Mittagsmaschine nach New York hatte er schon. Nun brauchte er bloß noch einen Flug für morgen von New York nach Seoul. Er rief bei der Auskunft an. »So früh wie möglich, wenn es geht.«
»Einen Moment.« Das Mädchen am anderen Ende der Leitung befragte seinen Computer. Dann erklang die geschäftige Stimme wieder. »Sind Sie noch da, Sir? Ich hätte noch einen Platz an Bord eines Jumbos von Korean Airlines. Start 9 Uhr in New York, Zwischenlandung in Anchorage. Wäre Ihnen das recht?«
»Wunderbar.« Soweit ging alles gut. Er rief noch einmal im Sacher in Wien an. »Wenn Mrs. Loret sich meldet, richten Sie ihr doch bitte aus, ich sei bereits nach Seoul geflogen. Ich möchte, daß sie nach Los Angeles kommt. Nach meiner Rückkehr werde ich dort auf sie warten.«
Lieber Gott, gib mir noch eine Chance!
Er blickte auf seine Uhr. Es blieb nicht viel Zeit, schließlich mußte er noch packen. Als er sein Büro verließ, fiel sein Blick auf die gerahmte Fotografie seines Vaters.
Tut mir leid, Vater, dachte er. Es wird nicht leicht werden, für dich nicht, aber für mich ganz bestimmt auch nicht.
Gina kehrte von einem Ausflug an den See zurück. Den ganzen Tag über hatte sie abwechselnd gebadet und in der Sonne gelegen. Jetzt war sie müde und hungrig. Durch den warmen Abendsonnenschein ging sie auf das Hotel zu. Der Geruch von Seewasser hing noch in ihren Haaren, der von Sonnenöl war in ihrer Haut. Ein paar Männer hatten sie angesprochen, sie hatte sich nur abgewendet. Sie fragte sich, ob man ihr nicht ansah, daß sie halb krank war vor Sehnsucht nach John.
Im Hotel bestellte sie ein paar Sandwiches aufs Zimmer und trank ein Glas Wein. Danach nahm sie den Telefonhörer ab und wählte die Nummer des Sacher in Wien. »Hier spricht Gina Loret. Ist Mr. Eastley noch im Haus?«
Am anderen Ende schien man äußerst erleichtert, von ihr zu hören. »Endlich! Mr. Eastley hat schon ständig angerufen! Er ist vor einer Woche bereits nach Los Angeles zurückgeflogen und befindet sich jetzt von dort aus auf dem Weg nach Korea. Er hat folgende Nachricht für Sie hinterlassen...« Es folgte der Text, den John diktiert hatte.
»Danke«, sagte Gina, »vielen Dank.«
Sie ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Der lange Tag am Wasser hatte ihre Haut getönt, überhaupt sah sie sehr gesund und kräftig aus.
»Er wartet auf mich in Los Angeles«, sagte sie laut, »und er ist zwei Wochen früher nach Seoul geflogen, als er wollte. Um früher zurück und bei mir zu sein?« Sie wagte nicht, die Freude wirklich hochkommen zu lassen, aber es hörte sich so an, als habe John eine Entscheidung getroffen.
»Ich werde in Los Angeles auf sie warten.«
»Und ich werde nach Los Angeles fliegen.« Sie war wie elektrisiert, wie ausgewechselt. Draußen lag die Puszta in goldgetöntem Abendsonnenschein. Wieder klangen in Ginas Ohren die melancholischen Zigeunerweisen, aber diesmal kamen ihr nicht die Tränen. Sie kramte ihre Sachen aus den Schränken, warf sie alle aufs Bett, lief ins Bad, um sich zu duschen und anzuziehen, rannte zurück nach Wäsche und Strümpfen, und
dann fiel ihr ein: sie hatte überhaupt keinen Koffer. Sie hatte auch noch keinen Flug. Es war gleich sieben Uhr. Heute abend würde sie kaum noch nach Amerika fliegen können.
1. September 1983
Gleichmäßig brummte die Boeing 747 der Korean Airlines über den blauen Himmel. Tief unter ihr lag der Pazifische Ozean. Vor mehr als fünf Stunden war die Maschine nach der Zwischenlandung in Anchorage gestartet. Die Stewardessen hatten Kaffee, Tee und Gebäck serviert, und die meisten Passagiere dösten jetzt vor sich hin. Die Klimaanlage sorgte für kühle Luft in der Kabine, daher hatten viele ihre Jacken aus der Gepäckablage gekramt oder sich
Weitere Kostenlose Bücher