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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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immer schaffte sie danach noch den Heimweg. Meistens brach sie in irgendeinem Rinnstein zusammen, schlief dort ihren Rausch aus und kehrte am nächsten Morgen nach Hause zurück. Im Sommer mochte das angehen, im Winter konnte diese Angewohnheit gefährlich werden. Ein Nachbar hatte Mrs. Hart einmal halb erfroren in die Wohnung geschleppt, man hatte sie anschließend mit schweren Unterkühlungen in ein Krankenhaus bringen müssen.
    »Die wacht eines Morgens mal nicht mehr auf«, prophezeite der Nachbar düster.
    Der Satz ging Laura nicht mehr aus dem Kopf. Mummie sollte eines Morgens nicht mehr aufwachen? Sie würde in ihrem ganzen betrunkenen Elend da draußen erfrieren? Laura empfand eine furchtbare Angst, sooft sie daran dachte. Sie hing sehr an ihrer Mutter, auch wenn die oft schlechte Laune hatte und ständig über ihre Kopfschmerzen jammerte. Sie hatte weniger Angst vor ihrem Vater, wenn die Mutter da war, und außerdem gab Mum ihr manchmal etwas Gutes zu essen oder strich ihr über die Haare.
    Laura hatte ein Gespür dafür entwickelt, zu ahnen, an welchen Abenden ihre Mutter vorhatte, in die Kneipen zu gehen. Ihre Unruhe war dann beinahe greifbar. Sie irrte durch die Wohnung, als sei sie in einem Käfig gefangen, klagte über Anfälle von Migräne, bekam einen gehetzten Ausdruck in den Augen und schenkte sich einen Schnaps nach dem anderen ein. Irgendwann griff sie dann nach ihrem abgewetzten Fellmantel. »Ich geh’ rasch noch einen Schluck trinken, Kinder. Bin bald zurück.« Schon fiel die Tür hinter ihr ins Schloß. Laura ging dann daran, die Küche aufzuräumen und das Abendessen vorzubereiten, gleichzeitig lauschte sie ängstlich nach draußen, ob sie schon die Schritte ihres Vaters auf der Treppe hören konnte.
    Dad ging keiner geregelten Arbeit nach, aber an manchen Tagen
fand er einen Gelegenheitsjob; entweder wurde im Schlachthof jemand gebraucht, oder eine Tankstelle suchte eine Aushilfe, oder in einer Kneipe mußten Tische und Stühle geschleppt werden.
    »Jeff Hart ist sich für keine Arbeit zu schade!« prahlte er oft, und tatsächlich war er ein kräftiger Kerl, der gut zupacken konnte, nur leider war er an vielen Tagen zu betrunken, um einen einzigen Schritt zu tun. Mum kam natürlich nie »bald« zurück. Laura hatte es sich angewöhnt, wach zu bleiben und auf ihre Heimkehr zu warten. Manchmal schaffte sie es nicht, so wie heute. Dann wachte sie erst von ihren Träumen wieder auf.
    Sie ging in ihr Zimmer zurück, schlüpfte in ihre Jeans und einen Pullover, zog ihre Winterstiefel an, ihren Mantel und Handschuhe. Durch das Fenster konnte sie die windstille, frostklare Nacht draußen sehen. Am Tag zuvor hatte es geschneit, und der weiße Teppich verschönte selbst die häßliche Bronx. Düster ragte die ausgebrannte Ruine des gegenüberliegenden Hauses in den schwarzen Himmel. Laura klapperte mit den Zähnen vor Kälte, außerdem war sie entsetzlich müde, denn sie hatte schon die letzten drei Nächte damit verbracht, durch die Straßen zu laufen und ihre Mutter zu suchen. Als sie die Wohnung verließ, holte sie tief Luft. Es war nicht ungefährlich, was sie tat, das wußte sie. Aber immer noch besser als die Angst, Mum könnte in dieser eisigen Kälte erfrieren.
    Die Familie Hart lebte in einem abbruchreifen Haus in der östlichen Bronx, das ursprünglich fünf Stockwerke hoch gewesen war. Bei einem Feuer waren jedoch die obersten drei Etagen völlig ausgebrannt, die beiden unteren blieben bewohnbar — für bescheidene Ansprüche zumindest. In der Wohnung der Harts gab es eine Küche, in der sich ein verbeulter Schrank ohne Türen, ein Tisch und zwei Stühle und ein an die Wand geklebtes Waschbecken mit verrostetem Wasserhahn befanden. Ein Kachelofen sorgte für Wärme, auf einem kleinen Gaskocher, wie er zu Campingausrüstungen gehört, wurde das Essen bereitet.
    Dann war da das Wohnzimmer, ein kleines, finsteres Loch, mit der ausziehbaren Couch, einem flachen Tisch, zwei Stühlen und
einem Fernsehapparat, der auf einer alten Apfelsinenkiste stand. Über dem Sofa war ein Poster mit Reißzwecken an der Wand befestigt, es zeigte das europäische Schloß Neuschwanstein, hinter dessen Türmen die Sonne unterging und einen herbstlich bunten Wald beschien.
    Die beiden Mädchen schliefen in einer Kammer, die nach Norden ging und keinen Ofen hatte. Hier wurde es im Winter mörderisch kalt. Laura wurde viele Nächte hindurch von einem quälenden Husten wach gehalten. In der Kammer wurde es nicht

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