Schattenspiel
Scheißvalium schluckte und dachte, sie werde draufgehen eines Tages, und trotzdem nicht aufhörte, jeden Morgen von neuem den Kampf gegen ihre Ängste aufzunehmen. Nein, er hatte keine Kraft mehr, und wenn er sie hatte, so fand er sie nicht in sich. Am Spiegel vorbei starrte er zum Fenster hinaus, hinter dem still und schweigend die eisige Nacht lag. Es hatte aufgehört zu schneien. Steve erinnerte sich an früher – als Kind hatte er einmal mit seinen Eltern und Alan den Winter in der kanadischen Wildnis verbracht. Auf einer Farm, die sein Vater gemietet hatte. Sie waren tagelang eingeschneit gewesen, aber das hatte keinen gestört, weil es ein so wundervolles Leben in dem alten hölzernen Haus gewesen war. In den Nächten sanken die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt, und wenn Steve morgens aufwachte, konnte er nicht hinausschauen, weil alle Fenster mit dicken Eisblumen bedeckt waren. In den Abendstunden saßen sie alle vor dem gewaltigen, steinernen Kamin im Wohnzimmer, hörten zu, wie sich die Flammen knisternd in die Holzscheite fraßen, tranken heißen Kakao aus großen Bechern und aßen Weihnachtsgebäck. Draußen fiel Schnee... und Steve versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, wenn man sein ganzes Leben in dieser Einsamkeit
verbrachte, wie man hinauslauschte und lernte, die Sprache der Natur zu verstehen, wie man das Rauschen des Tauwindes nach den langen Wintern ersehnte, diesen warmen, stürmischen Wind, der durch die Kiefern jagte und den Schnee zum Schmelzen brachte.
Warum dachte er gerade jetzt so intensiv daran? Mit demselben wehmütigen Herzen, mit dem er sich im Gefängnis ständig an das rosenumrankte Ferienhäuschen auf den Scillyinseln erinnert hatte? Wieso gingen ihm gerade diese Bilder immer wieder im Kopf herum, Bilder von Rosen und Schnee, von blauem Sommerhimmel und kristallenen Eisblumen, von Meeresrauschen und warmen Kaminfeuern? Irgendwo dämmerte in ihm eine seltsame Erkenntnis: Dieses Leben war immer seine geheime Sehnsucht gewesen, nur hatte er das nicht gewußt. Der junge, eitle Mann, der in teuren Aftershaves und schicken Pullovern schwelgte, der achtlos an der kleinen Mary Brown vorüberging und von einer steilen Bankkarriere träumte, dieser Mann hatte seine wirklichen, seine tiefsten, seine wahren Wünsche nicht erkannt. Was hatte er stets verkündet? »Ich will einen Porsche. Ich will ein superschickes Appartement. Ich will eine Uhr von Cartier. Ich will Mitglied im feinsten Londoner Club sein. Ich will nur maßgeschneiderte Anzüge tragen. Ich will, ich will...«
Jetzt auf einmal, jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das alles hatte er ja überhaupt nie gewollt! Zum Teufel mit einem Porsche und den maßgeschneiderten Anzügen! In Wahrheit ließen sie ihn so kalt wie nichts sonst. Wahrheit...die Wahrheit war, er hatte sich immer nur nach Wärme gesehnt und nach Geborgenheit. Und nach einer Frau wie Mary. Was hatte sie noch gesagt von ihren Träumen aus Kindertagen? Ein Haus inmitten einem Garten voller Blumen... Er hoffte, daß sie noch wach war. Leise verließ er sein Zimmer.
Gina setzte sich in ihrem Bett auf. Sie hatte nicht das Gefühl, daß irgend jemand in dieser Wohnung schlief. Vor fünf Minuten erst hatte sie draußen an ihrer Zimmertür etwas vorbeihuschen gehört. Und jetzt lief schon wieder jemand den Gang entlang. Entschlossen stand sie auf, griff nach dem weißen Morgenmantel.
Als sie am Spiegel vorbeikam, merkte sie, daß sie vergessen hatte, sich abzuschminken, und daß sich die Wimperntusche verschmiert hatte. Das gab ihr ein dramatisches Aussehen. Im Dämmerlicht der einzigen brennenden Lampe glänzte ihr Hals weiß und schimmerte ihr Haar sehr dunkel. Plötzlich war es ihr, als sähe sie im Spiegel John, der hinter ihr aus dem Schatten des Raumes auftauchte, sich über ihre Schulter neigte und sie mit beiden Armen umfaßte. Durch die Fenster wehte die Wärme des kalifornischen Sommers. Sie war jung und ihr Leben war ein Traum. Der Geruch des Salbei, der aus den Bergen kam... der süße Duft der Bougainvillea, der sich bei Nacht noch heftiger verströmte als am Tag... das Rauschen des Meeres in Pacific Palisades... das rote Licht der untergehenden Sonne – und Johns Körper dicht an ihrem. Sie roch seinen Pfefferminz-Zahnpastaatem, und sie spürte den Anflug von Bartstoppeln auf seinen Wangen. Der Schmerz fiel so jäh und heftig über sie her, daß sie sich zusammenkrümmte, als habe sie körperliche Schmerzen. Sie erinnerte sich, wie
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