Schattenspiel
mit einem Mann einläßt! Ich werde doch wohl noch in der Lage sein, meiner eigenen Tochter beizubringen, was Recht und Unrecht ist!« Er öffnete die Tür, die auf den kleinen Balkon hinausführte. »Da draußen bleibst du jetzt. Solange, bis du bereust.«
»Dad! Es wird jeden Moment anfangen zu schneien! Das kannst du nicht tun! Ich habe nicht mal einen Mantel an ...«
Er zerrte sie hinaus. »Das ist die gerechte Strafe!« Die Tür fiel zu. Mary starrte auf die Glasscheibe. Er ist wahnsinnig, ging es ihr durch den Kopf, mein Vater ist wahnsinnig!
Die Kälte fiel über sie her. Irgendwo hatte sie es mal gelesen: »...wie tausend Nadelstiche.« Genauso war es. Die Kälte stach und brannte, sie tat weh, lähmte den Körper mit ihren eisigen Händen. Schon nach wenigen Minuten klapperte Mary mit den Zähnen, sie krümmte sich zusammen, und Tränen der Verzweiflung
schossen aus ihren Augen. Ich werde erfrieren. Ich werde sterben! Sie schlug mit beiden Händen gegen die Glasscheibe. »Aufmachen! Laß mich rein! Aufmachen!«
In der Wohnung rührte sich nichts. Nur ein Stockwerk über ihr ging ein Fenster auf, und eine dicke Frau lehnte sich hinaus.
»Was ist los?« rief sie mißmutig. »Mußt du so einen Krach machen?«
Mary schaute nach oben. »Bitte helfen Sie mir. Mein Vater hat mich ausgesperrt, und es ist wahnsinnig kalt!«
»Das wirst du schon verdient haben«, meinte die Frau ungerührt und schloß das Fenster wieder.
Mary kauerte sich zusammen, hielt beide Arme fest um ihren Körper geschlungen. Angstvoll betrachtete sie den Himmel. Hoffentlich fing es nicht auch noch an zu schneien.
Nach einer Stunde – Mary hatte kein Gefühl mehr in den Gliedern, und es war ihr übel vor Schmerzen – öffnete ihr Vater die Tür.
»Komm herein. Ich hoffe, es tut dir leid, was du getan hast!«
Sie stolperte in die Küche, sank auf einen Stuhl und spürte leise neues Leben in ihren Knochen, aber sie konnte nicht aufhören, mit den Zähnen zu klappern und wie Espenlaub zu zittern. Sie konnte auch zehn Minuten lang kein Wort hervorbringen, und als ihre Lippen ihr endlich wieder gehorchten, murmelte sie: »Mummie...«
Ihr Vater starrte sie an. »Ach so«, sagte er langsam, »du weißt es ja noch nicht...«
Marys Augen wurden groß und dunkel. »Was? Was weiß ich nicht?« Und als er nicht antwortete, schrie sie fast. »Was weiß ich nicht? Was ist passiert?«
Michael Browns Blick heftete sich auf das Kruzifix, das über dem Küchentisch hing. »Deine Mutter ist heute früh erlöst worden.«
Mary war vierzehn, als sie und ihr Vater Liverpool verließen. Michael Brown hatte das Angebot bekommen, eine Lehrstelle in dem exklusiven Internat Saint Clare nahe bei London anzunehmen,
und da die Schule als eine der letzten Bastionen gegen die progressive und unmoralische Jugend galt, sah er sich dort am richtigen Platz. In Saint Clare lebten Jungen und Mädchen, aber die Vorschriften waren streng, die Bewachung scharf. Eine beinahe weltabgeschiedene Atmosphäre herrschte hinter den dicken Mauern, die das weitläufige Gebäude umschlossen. Der Saum des dunkelblauen Faltenrocks der Schuluniform von Saint Clare war in den letzten dreißig Jahren um keinen Millimeter höher gerutscht, die abendliche Ausgehzeit bis halb elf um keine Stunde verlängert worden. Man sprach hier weder über Klassenkampf, noch stellte man die Monarchie in Frage, Schwangerschaftsabbruch oder die Pille waren kein Thema. Später dachte Mary oft, ihr Leben wäre anders verlaufen, wenn sie mehr über die Wirklichkeit gelernt hätte, anstatt in verstaubten Schulbüchern zu blättern und von allen Seiten beschützt und behütet zu werden.
Natürlich befand sich Mary in einer Außenseiterrolle: ihre Mitschüler waren die Kinder kräftig zahlender Eltern, sie war die Tochter eines Lehrers. Sie hatte selber eine Art Angestelltenstatus, zumindest bildete sie sich das ein. Ihr Vater schürte ihre Unsicherheit noch, indem er ihr immer wieder sagte, die anderen seien etwas Besseres, und sie solle nie glauben, sie sei ihnen gleich, nur weil sie mit ihnen unter einem Dach lebte.
»Man darf nie den Platz verlassen, der einem zugeteilt ist im Leben. Das bringt nur Unglück!«
Mary verheimlichte ihm, daß sie sich mit einem Mädchen angefreundet hatte, mit Natalie Quint, deren Vater zu den reichsten Männern Englands zählte, die aber in ihrer Freizeit immer nur in Jeans und Turnschuhen herumlief. Ihr kurzgeschnittenes Haar hatte die Farbe von hellem Silber. Sie
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