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Schattenspiel

Schattenspiel

Titel: Schattenspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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und unbekannt.
    Was aber war tatsächlich geschehen?

II.
Buch

Mary
    1
    Mary Gordon wurde als Mary Janet Brown in Liverpool geboren, in einem schmuddeligen Krankenhaus, das wenig später wegen eines Hygieneskandals in allen Zeitungen stand und geschlossen werden mußte. Die Browns lebten in einer engen, düsteren Dreizimmerwohnung im Osten von Liverpool, denn der junge Lehrer Michael Brown verdiente noch nicht viel, und seine kränkliche Frau konnte nicht dazuverdienen. Vor der Küche gab es eine Art winzigen Balkon, nur dafür gedacht, die Wäsche zum Trocknen aufzuhängen; er war einen Meter lang und einen Meter breit, außerdem immer feucht, weil hier keine Sonne hinkam, aber Mary schleppte trotzdem ihre Puppen und Bauklötze dorthin, weil sie ein bißchen Himmel über sich sehen und mit den Fingern im Moos herumwühlen konnte, das in den Nischen der Hauswand wuchs. Sie hatte eine leidenschaftliche Sehnsucht nach Gras und Blumen, aber vom Balkon aus endete ihr Blick an der rußgeschwärzten Mauer, die dem Haus gegenüberlag und ein Fabrikgelände umschloß. Wie viele kleine Mädchen träumte auch Mary von dem Prinzen, der eines Tages kommen und sie mitnehmen würde; er hatte ein kleines Haus am Meer und einen großen Garten mit Apfelbäumen, Brombeerhecken und wilden, süßen Erdbeeren.
    Marys Vater war strenggläubiger Baptist und sein religiöser Fanatismus steigerte sich stetig. Die langen Predigten, die er seiner Familie hielt, bestanden im wesentlichen aus Worten wie Sünde, Unreinheit, Befleckung, Verderbtheit, Versuchung. Die Feinde Gottes witterte er überall, ob es sich um die Frau aus der Wohnung unter ihnen handelte, von der es hieß, sie betrüge ihren Mann, oder um das junge Mädchen von nebenan, das immer in kurzen Röcken und hochhackigen Schuhen herumlief.
    »Hure«, sagte Michael Brown, »eine Sünderin, die eines Tages ihre gerechte Strafe finden wird!«
    Mary verbrachte ihre Kindheit damit, um Erlösung von Sünden zu beten, die ihr als solche nicht einmal bewußt waren.
    »Was habe ich denn getan?« fragte sie ihren Vater eines Tages mit Tränen in den Augen, als er sie wieder zwang, eine Stunde auf der harten Küchenbank zu knien und Gott um Vergebung anzuflehen.
    Michael sah sie aus seinen fanatischen dunklen Augen an. »Die Erbsünde. Sie ist in dir wie in uns allen. Du wirst eines Tages eine Frau sein, Mary, und dann wirst du dich der Sünde in ihrem ganzen schrecklichen Ausmaß schuldig machen. In den Frauen steckt das Böse.«
    Mary konnte nicht begreifen, was er meinte. »In Mummie auch?« fragte sie. Ihre Mutter lag wie meistens fiebrig und elend im abgedunkelten Schlafzimmer, und es gelang Mary nicht, in dieser abgemagerten, blassen, stillen Frau die Verkörperung des Bösen zu sehen.
    »In jeder Frau ist das Böse«, wiederholte ihr Vater, »und du siehst, wie schwer deine Mutter dafür bestraft wird.«
    Würde es ihr auch eines Tages so gehen, nur weil sie eine Frau war? Mary begann sich vor ihren eigenen Sünden zu fürchten, denn wenn schon Mummie, die niemandem etwas Böses tat, so leiden mußte, um wie vieles schlimmer mußte es ihr, Mary, dann erst ergehen? Ängstlich durchforschte sie Tag für Tag ihr Gewissen: hatte sie in der Schule auf das Heft ihrer Nachbarin geschielt? Hatte sie wirklich genug gelernt für die nächste Prüfung? Hatte sie der Kassiererin im Supermarkt gesagt, daß sie ihr zuviel Wechselgeld herausgegeben hatte? Jeden Tag gab es so viele Gelegenheiten zu straucheln, es war fast nicht möglich, daran unbeschadet vorbeizugelangen. Mary wurde immer ernster, stiller und blasser, sie zog sich völlig in sich zurück. Kurz nach ihrem zwölften Geburtstag merkte sie, daß ihr Körper sich veränderte, und das stürzte sie in Panik. Jetzt war es wohl bald soweit. Nicht mehr lange, und das, was ihr Vater ihr prophezeit hatte, würde über sie hereinbrechen.

    Es war ebenfalls kurz nach Marys zwölftem Geburtstag, als ihre Mutter ins Krankenhaus mußte. Erst viel später erfuhr Mary, daß sie Krebs gehabt hatte und ihr kein Arzt mehr eine Chance gab, aber obwohl man ihr die bittere Wahrheit verschwieg, ahnte sie, daß sie ihre Mutter nicht mehr wiedersehen würde.
    Ein Krankenwagen holte Mrs. Brown, die nur noch knappe vierzig Kilo wog, ab. Es war ein trüber, grauer Novembertag, Liverpool versank im Nebel, eine klamme Kälte lag über den Straßen. Mary hielt die Hand ihrer Mutter, das ganze Gesicht tat ihr weh vor Anstrengung, nicht zu weinen. Michael Brown war

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