Schattenspiel
zur Schule gegangen, aber Mary hatte heute geschwänzt, obwohl sie wußte, daß ihr das einen dicken Minuspunkt beim lieben Gott einbringen würde. Sie konnte Mum jetzt nicht allein lassen. Mrs. Brown bemühte sich, zuversichtlich zu lächeln. »Mary, mein Liebling, schau nicht so traurig, ich komme ja bald wieder. Dann bin ich ganz gesund, und was meinst du, was wir dann alles gemeinsam unternehmen können? Aber geh solange deinem Vater ein bißchen aus dem Weg, ja? Und hör nicht so genau auf das, was er redet. Versprichst du mir das, Mary?«
Mary nickte, denn sie konnte kein Wort hervorbringen, so würgte sie es in der Kehle.
»Wenn du irgendwann später einen netten Mann kennenlernst«, fuhr Mrs. Brown fort, »dann geh mit ihm weg, ganz gleich, was dein Vater dir erzählt von der Strafe des Himmels oder von was auch immer. Dein... dein Vater ist nicht... allwissend ...« Nur das Bewußtsein, daß ihr vielleicht nicht mehr viel Zeit blieb, konnte Mrs. Brown diese vermessene Äußerung entreißen. »Ich möchte, daß du eines Tages ein glücklicher Mensch bist, Mary. Es gibt nichts, was ich mir so sehr wünsche.«
Die Krankenpfleger traten heran und hoben Mrs. Brown auf ihre Bahre, wobei sie vor Schmerzen leise stöhnte. Mary wollte den traurigen Transport die Treppe hinunterbegleiten, aber einer der Pfleger winkte ab. »Bleib oben, Kleine. Es ist so kalt draußen, da holst du dir noch was. Du hast deiner Mutter ja nun auf Wiedersehen gesagt.«
Mary stürzte ans Fenster, preßte das Gesicht an die Scheibe und starrte auf die Straße. Nach einer Weile erschienen sie, die beiden Männer, die die Bahre zwischen sich trugen. Wie unsagbar klein Mummie von hier oben aussah. Und wie hilflos. Sie luden sie in den Krankenwagen und schlossen die Türen hinter ihr. Das Auto fuhr an, zurück blieb die neblige Straße, schmutzig, düster und leer. Aus dem Schornstein der Fabrik stieg Rauch, auf der Treppe klapperten die Absätze des jungen Mädchens, das Michael Brown als »Hure« bezeichnete. Mary legte sich auf das Sofa, wickelte sich in eine Wolldecke und flüchtete sich in ihren ewigen Tagtraum: Irgendwann würde der Mann kommen, der sie liebte und ein Leben lang für sie sorgte. Ob es eine Sünde war, darüber nachzudenken?
Eine Woche später kam Mary mittags von der Schule zurück. Es wehte ein kalter Wind, die Luft roch nach Schnee, alle Leute hasteten eilig durch die Straßen. Mary empfand es als angenehm, in eine geheizte Wohnung zu kommen, in der sie sogar der Duft von warmem Essen willkommen hieß. Dad war wohl schon zu Hause und kochte für sie. »Dad! Dad, ich bin da!«
Michael Brown streckte seinen Kopf zur Küchentür hinaus. »Guten Tag, Mary. Warum kommst du so spät?«
»Spät? Ich komme ganz normal!« In seiner Stimme war etwas, das Mary vorsichtig sein ließ. »Es ist ein Uhr!«
»Ich habe aus dem Fenster gesehen, Mary.«
Was wollte er damit sagen? Mary tappte völlig im dunkeln. »Du hast aus dem Fenster gesehen?«
»Ja. Komm doch mal in die Küche.« Etwas zu grob packte er ihren Arm. »Jetzt schau mal aus dem Fenster!«
Sie tat, was er ihr sagte, aber beim besten Willen konnte sie nichts anderes entdecken als die Straße, die genauso aussah wie immer. »Was soll denn da sein?«
»Die Ecke«, sagte Michael Brown, »die Straßenecke, an der sich der Fish-and-Chips-Laden befindet!«
»Ja und?« War Daddy übergeschnappt? Das Geschäft gab es dort schon, solange Mary denken konnte.
»Ich habe dich dort gesehen!« sagte Michael leise und langsam.
»Mich?«
»Tu nicht so unschuldig, Mary. Und vor allem, lüg mich nicht an. Ich habe dich eben dort gesehen – mit diesem Mann zusammen!«
Vor Überraschung schnappte sie nach Luft. Das meinte er. Ach, du lieber Himmel! »Dad, das war ein Klassenkamerad von mir. Kein Mann. Er ist zwölf oder dreizehn. Er hatte etwas nicht verstanden, was wir heute in der Schule durchgenommen haben und wollte es von mir erklärt haben. Das ist alles. Wir haben vielleicht fünf Minuten geredet.«
»Meine Tochter! Meine Tochter treibt sich mit fremden Männern an dunklen Straßenecken herum!«
»Dad!«
»Dad! Dad!« äffte er sie nach. »Weißt du nicht, was diese Kerle von dir wollen? Bist du wirklich so blöd, oder macht es dir Spaß? Macht es dir Spaß, wenn sie dich gierig anschauen und wenn sie dich anfassen?«
»Aber es faßt mich keiner an, wirklich nicht!«
»So? Nun, auf jeden Fall sollst du ein für allemal lernen, was du davon hast, wenn du dich
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