Schattenspiel
verdächtig.«
»Du großer Gott, ich denke doch nicht daran, mir für jeden Moment meines Lebens ein Alibi zu verschaffen, nur weil gerade zufällig ein Bekannter von mir erschossen wird«, fauchte Gina. »Und jetzt werde ich gehen, und ich will sehen, wer mich daran hindert!«
Sie ging zur Tür, wo sie mit Inspektor Kelly zusammenstieß, der soeben das Zimmer betrat. »Hoppla«, sagte er, »wohin so eilig?«
»Ich möchte in mein Zimmer gehen, mich anziehen, meine Sachen packen und dann herausfinden, wann der nächste Flug nach London geht. Bis jetzt hat mir noch kein Mensch einen vernünftigen Grund nennen können, warum ich hier festgehalten werde!«
»Ich kann Ihnen gerne einen Grund nennen, Lady Artany.«
Kellys Stimme klang sanft, aber nicht so, als werde er Widerspruch hinnehmen. Er schaltete den Fernseher aus. »In dieser Wohnung wurde vergangene Nacht ein Mann erschossen. Und ich will wissen, wer der Mörder ist.«
Gina warf den Kopf zurück. »Und wie soll ich Ihnen da helfen? « fragte sie herausfordernd.
Kelly sah sie scharf an, dann glitt sein Blick durchs Zimmer, streifte die bleiche Laura, verweilte nacheinander auf jedem der Gäste. »Sie können mir eine Frage beantworten«, sagte er. »Sie alle könnten das. Ich glaube, Mr. Bellino hat Ihnen diese Frage auch schon gestellt. Wer von Ihnen hat David Bellino umgebracht?«
»Jetzt fangen Sie doch nicht auch noch mit dem Unsinn an«, sagte Natalie entnervt. Sie hatte zwei Tassen Kaffee getrunken, obwohl sie nicht einmal eine vertrug, und nun ging ihr Atem sehr schnell, und ihr Herz hämmerte. Sie ärgerte sich, daß sie den Butler nicht um einen Tee gebeten hatte.
»Halten Sie das wirklich für Unsinn, Miss Quint?« fragte Kelly.
Steve erhob sich. »Halten Sie uns tatsächlich für verdächtig, Inspektor? Da keiner von uns ein vollständiges Alibi für die Tatzeit hat, und Sie darauf offenbar Ihre ungeheuerliche Anschuldigung gründen, sollten wir uns vielleicht alle nach einem Anwalt umsehen.«
»Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich Sie für verdächtig halte«, erwiderte Kelly. »Tatsache ist aber, daß Bellino Sie dafür hielt. Die Gründe hat er hier dargelegt.« Er hielt den Ordner in die Höhe. »Ihrer aller Lebensgeschichte. Soweit ihm bekannt.«
»Wie aufschlußreich für Sie!« Gina sah ihn an. »Dann können Sie ja nun in uns lesen wie in aufgeschlagenen Büchern.«
»Noch nicht genug, leider. Aber zu Anfang schreibt David Bellino, daß er glaubt, an jedem von Ihnen, an Miss Quint, Mrs. Gordon, Lady Artany und an Mr. Marlowe schuldig geworden zu sein. Jedem von Ihnen unterstellt er damit ein Motiv. An irgendeiner Biegung des Weges war er der Fallstrick, über den Sie stolperten.«
Niemand sagte etwas. Es herrschte völlige Stille im Raum. Nur die Holzscheite im Kamin knackten.
»Nicht wahr«, sagte Kelly sanft, »das stimmt. Sie haben ihn alle gehaßt. Er war schicksalhaft für jeden von Ihnen.«
Immer noch sprach niemand. Sachlich fuhr Inspektor Kelly fort: »Ich würde sagen, wir gehen Ihre Geschichten einmal durch. Die vielen wesentlichen und unwesentlichen Ereignisse, die Ihren Weg bestimmt haben. Die Ihre Vergangenheit ausmachen und die dazu geführt haben, daß Sie heute hier sind – und in diese äußerst unangenehme Angelegenheit verwickelt.«
»Nur weil wir zufällig ...«, begann Steve, aber Inspektor Kelly unterbrach ihn. »Nein. Zufällig ist hier gar nichts. Und warum das so ist, möchte ich herausfinden. Wir werden gemeinsam Ihre Geschichten rekonstruieren. Eine ganze Menge können wir offenbar diesem Ordner entnehmen, vieles hätte ich gern von Ihnen gehört. Ich werde Ihnen Fragen stellen, und ich möchte, daß Sie ehrlich antworten.«
»Sehr faszinierend«, bemerkte Gina. »Kann mir jemand eine Zigarette geben, damit ich nicht einschlafe während Inspektor Kellys Märchenstunde?«
Schweigend reichte Laura ihre Zigarettenschachtel hinüber. Bride schielte zu dem Schokoladenkuchen, wagte aber nichts zu sagen. Ein Holzscheit fiel leise knisternd in sich zusammen. Es schneite noch immer.
Davids Aufzeichnungen würden natürlich nur ein unvollständiges Bild abgeben, denn vieles hatte er nicht wissen, manches nur vermuten, einiges nicht einmal ahnen können. Und die, um die es ging, würden nicht alles preisgeben, würden selber auch immer wieder im dunkeln tappen. Niemand kennt jemals alle Facetten des Schicksals, sei es des fremden oder des eigenen, und es bleiben weite Bereiche mysteriös, geheimnisvoll
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