Schattenspiel
war ihm klar, daß es einen Affenzirkus geben würde, wenn sie heimkämen. Von einem Moment zum anderen beschloß er zu gehen. So war es immer mit ihm. Er kam und ging, und er war nicht gern in Gesellschaft anderer Menschen. « Noch während er sprach, merkte Steve, daß Marsh ihm nicht glaubte. Er hörte ihm zwar geduldig zu, aber er hatte einen spöttischen Zug um den Mund, so, als wolle er sagen: Hübsch zu sehen, wie du Purzelbäume schlägst und redest und redest, um dich aus der Sache herauszuwinden, aber ich bin ein alter Fuchs, und es ist völlig zwecklos, mich hereinlegen zu wollen! Dabei, dachte Steve, ist gerade das, was ich jetzt gesagt habe, wahr! Wäre Alan in St. Brevin gewesen, dann hätte er so und nicht anders gehandelt. Er wäre verschwunden gewesen, ehe Gina und Natalie zurückkamen. Darauf könnte ich nun wirklich jeden Eid leisten.
»Seiner Aussage zufolge verbrachte Ihr Bruder die Nacht in einem Bootshaus am Rande von St. Brevin«, sagte Marsh mit hochgezogenen Augenbrauen. »Auch wenn vorausgesetzt wird, daß die Nacht warm war, stelle ich mir diese Art von Übernachtung ziemlich spartanisch vor, im Gegensatz zu einem weichen Bett!«
»In diesen Bootshäusern gibt es ja meistens Liegestühle und Decken...«
»Ich glaube«, sagte der Staatsanwalt, »daß Sie diese ganze Geschichte selber recht unwahrscheinlich finden. Wissen Sie, obwohl Sie sich seit einer Viertelstunde bemühen, Ihren Bruder als verschrobenen Sonderling darzustellen, der ständig seltsame, absurde, eigenartige Dinge tut, will es mir noch nicht in den Kopf, weshalb er dann zwei Tage später nach England zurückgekehrt ist. Lassen Sie mich die Geschichte noch einmal nachzeichnen, dann müßten Sie eigentlich zugeben, daß sie befremdlich klingt: Alan Marlowe kommt in den ersten Morgenstunden des 4. Juli mit der Fähre in Calais an. Ein Ticket hat er nicht, hat es angeblich
noch im Hafen weggeschmissen. Er nimmt den Zug nach Nantes, fährt dann per Autostop weiter nach St. Brevin, wo er Ihnen und Mr. Bellino einen Besuch abstattet. Sie verbringen den Tag zu dritt, machen Ausflüge in die Umgebung — immer schön unter Ausschluß der Öffentlichkeit, versteht sich — und kehren dann abends nach Hause zurück. Hier beschließt Alan Marlowe plötzlich, die Nacht alleine und woanders zu verbringen. Nach eigenen Angaben begibt er sich in ein Bootshaus, schläft dort, bleibt auch am nächsten Tag, dem 5. Juli, in St. Brevin, allein wohlgemerkt, ohne sich noch einmal bei seinem Bruder zu melden. Er badet und sonnt sich, kauft dann eine Baguette und etwas Käse in einem Geschäft - selbstverständlich erinnert sich der Ladeninhaber nicht, wie sollte er auch, bei der Menge an Feriengästen, die täglich bei ihm einkaufen. Er kehrt in sein Bootshaus zurück, übernachtet dort zum zweitenmal, fährt in aller Frühe am nächsten Morgen, dem 6. Juli, nach Calais und besteigt die Fähre nach Dover. In Dover angekommen, wird er sofort verhaftet und präsentiert unverzüglich ein Alibi für jenen verhängnisvollen 4. Juli. Seinen Bruder Steve Marlowe nämlich, und dessen Freund David Bellino. Und damit glaubt er, sich aus der Affäre ziehen zu können. Ich nehme aber an, sowohl das Gericht als auch die Geschworenen sind gleich mir ein wenig verwundert über diesen Zwei-Tages-Ausflug nach St. Brevin. Auch in England war es in dieser Zeit heiß genug, um sich in die Sonne legen zu können, dafür mußte niemand auf den Kontinent reisen. Zumal die Überfahrten auch nicht ganz billig sind. Ich denke, daß nicht einmal ein völlig unkonventionell lebender Mensch etwas so Unsinniges tun würde!«
»Alan«, sagte Steve, »war nie vernünftig nach den Maßstäben der Gesellschaft.«
Marsh neigte sich vor, sein Gesichtsausdruck war jetzt mild und freundlich, ein wenig so, als rede er mit einem kleinen, bockigen Kind. »Mr. Marlowe, war es nicht vielmehr so, daß Ihr Bruder erst am 5. Juli nach Frankreich kam, einen Tag, nachdem die Bombe im ›Black Friars‹ installiert worden war, und daß Sie gemeinsam beschlossen...«
»Einspruch!« Alans Anwalt sprang erneut auf. »Der Herr Staatsanwalt unterstellt dem Zeugen, soeben einen Meineid geleistet zu haben. Ich muß das entschieden zurückweisen!«
»Stattgegeben« sagte der Richter, der aussah, als kämpfe er mit dem Schlaf. »Wählen Sie eine andere Formulierung, Herr Staatsanwalt.«
»Verzeihung, ich wollte dem Zeugen nichts unterstellen. Ich wollte ihn nur noch einmal darauf aufmerksam
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