Schattenspiel
Ich verstehe wirklich nicht, warum er uns nicht reinen Wein eingeschenkt hat, wir wären ihm doch nicht in den Rücken gefallen.«
»Wahrscheinlich glaubte er, unsere Aussagen bei der Polizei seien überzeugender, wenn wir nichts von dem Schwindel wüßten«, meinte Gina und suchte in ihrem Geldbeutel nach weiteren Münzen. Susi, das Huhn, trippelte auf sie zu und pickte sie heftig in den Fuß. Gina fluchte. »Dieses verdammte Huhn!«
»Welches Huhn?« erkundigte sich Natalie pikiert.
»Hier läuft ein Huhn herum und hackt jeden in den Fuß«, sagte Gina, »und die Wirtin steht oben an der Treppe und lauscht. Es ist das schlimmste Hotel, das du dir vorstellen kannst!«
Vom oberen Treppenabsatz kam ein ärgerliches Schnaufen. Gina grinste. Wenigstens wußte die Alte jetzt Bescheid.
»Es ist so furchtbar«, sagte Natalie. »Wie konnte David das tun?«
»David ist der größte Egozentriker, den ich kenne. Der hält für niemanden den Kopf hin. Abgesehen davon, daß er eigentlich Steve von der Falschaussage hätte abhalten müssen – vielleicht hatte er wirklich vor, Steve und Alan zu helfen, aber als man ihn vereidigte, wurde ihm klar, welches Risiko er da eingeht – und Risiken sind nichts für David Bellino. jedenfalls nicht, solange er sie für andere auf sich nimmt und für ihn dabei nichts ›rausspringt‹. «
»David ist ein Schwein«, sagte Natalie in jener ehrlichen, ungeschminkten Art, die manchmal dafür sorgte, daß Menschen sich brüskiert von ihr abwandten. »Was er da gemacht hat, ist unmöglich. Er hat Steve in eine furchtbare Sache hineingeritten.«
Die beiden Mädchen unterhielten sich noch eine Weile, verstört und bekümmert, dann sagte Natalie: »Ich habe übrigens Glück gehabt. Ich kann am ersten September bei einer Zeitung anfangen. ›Limelight‹. Es ist schlimmste Boulevardpresse, aber man startet ja immer weit unten. Die Redaktion sitzt in King’s Lynn. Ich werde endlich allein leben.«
»Genau das möchte ich auch«, entgegnete Gina. »Ich habe mir vorhin überlegt, ob ich nicht vielleicht nach Amerika gehen sollte.«
»Das mußt du tun«, entgegnete Natalie sofort, »es ist ein Land, in das du gehörst, Gina. Und was David betrifft, so sollte man ihm raten, daß er sich am besten auf die abgelegenste Südseeinsel der Welt zurückzieht – weil hier inzwischen eine ganze Menge Leute bereitstehen, die ihm den Hals umdrehen wollen.«
Die letzte Münze rutschte durch. Pip-pip-pip machte der Apparat. Gina legte den Hörer auf. Nachdenklich betrachtete sie Huhn Susi, aber sie sah es nicht. Es ging ihr durch den Sinn, daß David tatsächlich schon an zweien von ihnen schuldig geworden war: an Steve, der nun möglicherweise ins Gefängnis mußte, und in gewisser Weise auch an Mary, die nicht in die Fänge dieses
Mannes geraten wäre, hätte David sie nicht in jener Nacht allein gelassen.
Er würde seine eigene Mutter verraten, um seine Haut zu retten, dachte Gina, und dann, während sie die knarrende Holztreppe zu ihrem Zimmer hinaufstieg, fügte sie für sich hinzu: Wenn er so weitermacht, wird ihn wirklich noch mal irgend jemand umbringen.
4
Im Gefängnis träumte Steve von daheim. Es waren kleine, fast unbedeutende Szenen, die er vor sich sah, Bilder einer vergangenen Idylle. Er dachte an die Sommer auf den Scillyinseln, an das Häuschen, das sein Vater dort gekauft hatte; ein weißes Haus mit einer blaulackierten Tür und roten Rosen, die sich um die Fenster rankten. Morgens frühstückten sie auf der Terrasse im Garten, und Steve roch den Duft nach frischem Kaffee, er hörte seinen Vater vor sich hinpfeifen, während er sich rasierte, und sah seine schöne Mutter in einem spitzenbesetzten Seidengewand durch den Garten gehen. Vom Meer her wehte ein salziger Wind. Oder London, die schöne, große Wohnung mit den hohen Fenstern. Wann immer er von Saint Clare zurückkam und die Wohnung betrat, Grace’ sanfte Arme um sich spürte und ihren Duft nach Lavendelöl roch, begriff er den Frieden und die Ruhe, die über seinem Leben lagen. Er fühlte sich davon eingehüllt wie von den weichen Kaschmirpullovern, die er trug, und von dem Gleichmaß der Tage und Stunden, die kamen und gingen und ihn streichelnd berührten. Es hatte ihn nie nach Aufregungen verlangt, und er hatte keinen Moment daran gezweifelt, daß sein Leben für immer schön und ruhig sein würde – bis zu jenem Abend, als Alan ihn von Nantes aus anrief und jene Geschichte begann, die ihren Abschluß und Höhepunkt in
Weitere Kostenlose Bücher