Schattenspur
schöner Name, der wie wainscot klang – Wandvertäf e lung. Wenn sie ihn ansah, empfand sie dasselbe warme Gefühl, das der A n blick der alten Vertäfelung aus glattem Holz immer in ihr auslöste, die den unteren Teil ihres Zimmers in der Wohnung ihrer Großmutter bedeckte. Ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Von Halt und Schutz und …
Egal. Sie musste Louis aufhalten, bevor Scott und sein Partner sie erneut aufspürten. In Charlies Wohnung konnte sie nicht zurück, wo immer noch das Buch in ihrer Tasche lag und die Dose mit den Zutaten für die Ouanga. Mit Sicherheit hatten die Agents dafür gesorgt, dass die Wohnung überwacht wurde. Ebenso ihre eigene Wohnung und die ihrer Großmutter. Das machte die Sache nicht leichter. Zum Glück kannte sie das Ritual auswendig, um Louis seine Macht zu nehmen, und hatte das Wichtigste – den Schlange n schädel – bei sich. Alles andere konnte sie besorgen oder in der Natur finden.
Aber die Sache war nun kompliziert geworden. Sie brauchte einen ruhigen Ort für ihre Vorbereitungen, an dem sie für mindestens drei oder vier Stunden ungestört war. Nachdem ihr nun sämtliche ihrer bisherigen Zufluchtsorte nicht mehr zur Verfügung standen, wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte. Sie kannte nicht viele Leute in Savannah, die sie um Unterschlupf hätte bitten können. Ein Hotelzimmer schied aus, weil sie zu dem Zweck ihre Kreditkarte hätte benutzen müssen. Das bedeutete, dass sie mit dem Geld auskommen musste, das sie bei sich hatte. Da sie, als sie Charlies Wohnung verließ, nicht vorgehabt hatte, einkaufen zu gehen, hatte sie nicht viel Geld mitgenommen. Genaugenommen hatte sie nur das bei sich, was in ihrer Hosentasche steckte. Und der Betrag war bereits durch die Busfahrten beträchtlich geschrumpft.
Tante Lavender! Sie war die einzige Person, zu der sie gehen konnte. Lavender Haskell war zwar nicht ihre Tante; sie war alt genug, Kias Urgro ß mu t ter zu sein. Aber jeder, der sie kannte, nannte sie Tante Lavender, weil sie jeden in ihr großes Herz schloss und wie einen Verwandten behandelte. Sie wohnte in einem alten Häuschen draußen vor der Stadt auf Whitemarsh I s land am Penrose Drive, direkt zwischen Battery Crescent und Battery Circle. Ihr Mann hatte früher ein Geschäft für Angel- und Jagdausrüstung betrieben, das Lavender nach seinem Tod zu einem guten Preis verkauft hatte. Im G e gensatz zu vielen anderen Leuten ihrer Generation, die den Banken nicht trauten, hatte sie das Geld gut angelegt und durch die Rendite in Verbindung mit dem Verkauf von Handarbeiten ein sorgenfreies Auskommen.
Großmutter besuchte Tante Lavender regelmäßig, um für sie das Orakel zu befragen, ihr Kaffee oder Tee zu bringen und das eine oder andere Ritual durchzuführen, damit Baron Samedi, der Herr über die Toten, sie noch eine Weile übersah. Tante Lavender kannte Kia und würde sie bestimmt für eine Weile bei sich unterkommen lassen.
Sie wechselte erneut den Bus und fuhr nach Whitemarsh Island hinaus. Sie stieg an der Kim Street aus und ging die restliche Meile zu Tante Lavenders Haus zu Fuß. Wie meistens saß die alte Frau in einem Schaukelstuhl auf der Veranda, rauchte eine Pfeife und ließ sich von der Sonne bescheinen.
„Hallo, Tante Lavender.“
Lavender beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte. Sie reckte den Kopf vor in einer Weise, die an eine Schildkröte erinnerte, um besser sehen zu können. „Na, wenn das nicht Almas kleine Joy ist.“ Sie lächelte und tä t schelte den leeren Schaukelstuhl, der neben ihr stand. „Setz dich zu mir, Kindchen. Hat Alma dich geschickt?“
Kia setzte sich. Lavender lächelte in einer Weise, die so sehr an Großmutter erinnerte, dass Kia die Tränen kamen. Lavender beugte sich zu ihr herüber und zog sie in ihre Arme.
„Ach, Kindchen, was ist denn passiert?“ Sie wiegte Kia, drückte sie an sich und streichelte ihren Rücken, dass Kia noch mehr weinen musste. „Hey, Kindchen, es wird alles wieder gut. Ich bin für dich da, kleine Joy.“
Kia überließ sich eine Weile dem Trost der alten Frau und erlaubte sich, ein paar Minuten in einem Gefühl der Schwäche zu schwelgen, ehe sie sich z u sammennahm. Sie war eine Priesterin des Feuers, seinem Gott Ogou geweiht, dem Meister des Eisens, dem Kriegergott, der jedes Hindernis überwinden konnte, der aber trotz aller Schrecklichkeit auch Weisheit besaß. Dass eine Frau ihm geweiht wurde, war, wie Großmutter nie müde wurde zu betonen, eine solche
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