Schattenstürmer
was im Haus der Liebe, in dem des Schmerzes oder der Furcht geschieht. Aber alle aus dem Haus der Kraft verfügen über außergewöhnliche magische Fähigkeiten, genauer gesagt, sie sind sehr starke Schamanen. Das können wir mit Sicherheit festhalten, aber das ist auch schon alles, was wir wissen, Garrett.«
»Das … ist … alles?«, fragte ich. »Und diese kümmerlichen Kenntnisse habt Ihr vor mir geheim gehalten? Ein dummes Märchen darüber, wie unsere Welt entstanden sein könnte, und irgendwelche Vermutungen, die auf einem winzigen Absatz fußen? Das soll das große schreckliche Geheimnis der Elfen und Kobolde sein?«
Ich musste lachen. In jeder Schenke bekam man bessere Geschichten zu hören – und solidere.
»Das ist ein sehr gefährliches Wissen«, fuhr Miralissa sanft fort. »Vor allem für bestimmte Menschen. Wenn sie von einer Möglichkeit erführen, sich über die Götter zu erheben und eine eigene Welt zu schaffen …«
»Verzeiht, Mylady, aber das ist doch Unsinn.«
»Ich habe ja gesagt, es ist noch zu früh für ihn, er wird es nicht begreifen«, trumpfte der Kobold Miralissa gegenüber auf. »Für die Geschichte, die wir dir gerade eben erzählt haben, würde uns der Orden einen ganzen Berg von Gold ankarren.«
»Das spricht nicht gerade für den Verstand der Zauberer«, parierte ich.
»Was bist du nur für ein Hohlschädel!« Der Narr stand verärgert auf und ging weg.
Irgendwie schien mir sein Unmut etwas übertrieben.
»Vielleicht wirst du später noch alles begreifen, Garrett«, sagte Miralissa seufzend und stand ebenfalls auf.
»Halt!«, rief ich. »Warum habt Ihr mir dann überhaupt etwas vom Haus der Kraft erzählt?«
»Du bist schließlich ein Schattentänzer. Aber denk nicht zu viel über diese Geschichte nach. Ich wollte einen neuen Weg versuchen, das ist alles.«
»Und der Herr? Warum glaubt Ihr, dass sich der Herr im Haus der Kraft befindet?«
»Wegen der magischen Handschrift. Das verstehst du nicht, Garrett, denn du hast keine Ahnung vom Schamanismus. Das, was uns in der Harganer Heide widerfahren ist, und das, was die Fähre vernichtet hat … das unterscheidet sich grundlegend von unserem Schamanismus. Dergleichen kann nur in dem legendären und mythischen Haus der Kraft entstehen.«
Federnden Schrittes ging sie über das feuchte Gras davon und ließ mich allein. Wohl, damit ich nachdenken konnte. Die Geschichte der Elfin und des Kobolds hatte keines meiner Rätsel gelöst – mir aber neue beschert.
Ranneng ertrank in Blumen. Duftende Rosen in allen Farben hatten die Stadt erobert. Die Feierlichkeiten dauerten bereits den zweiten Tag an. Wer sich noch auf den Beinen halten konnte, streifte durch die Straßen, grölte Lieder, tanzte Reigen, verschlang das auf Tischen bereitgestellte Essen und trank Wein und Bier aus riesigen Fässern. Die Stadt brodelte, lebte und vergnügte sich. So war es, und so sollte es auch bleiben. Einmal im Jahr, am Ende des Augusts, pries die ganze Stadt die Götter.
Gegröle, Lachen, Gesang, Musik und der Geruch nach Wein, frischem Brot und gebratenem Fleisch – all das verschmolz zu einem feierlichen Gebinde der Freude, des Lebens und der Festlichkeit.
Jok Imargo schlenderte die Straße hinunter und lächelte. Er war ein breitschultriger, hochgewachsener junger Mann mit einem vortretenden, energischen Kinn, einem gewinnenden Lächeln, braunen Augen und rabenschwarzem Haar. Er strahlte Ruhe, Selbstsicherheit und Lebensfreude aus. Man winkte ihm zu, lud ihn ein, sich einer Gesellschaft hinzuzugesellen, bot ihm einen Krug Bier an oder forderte ihn zu einem ungestümen Tanz auf. Wer kannte Jok Imargo nicht, den Liebling aller, den besten Bogenschützen der letzten vier königlichen Turniere, der auch heute einen Köcher voller Pfeile an der Hüfte trug und den zwei Yard langen Bogen in der Hand hielt?
»He, Jok, komm zu uns!«
»Nein, zu uns!«
»Sei gegrüßt, Jok.«
»Jok, tanz mit mir! Komm schon, Jok!«
»Seht mal, Mädchen, was für ein hübscher junger Mann!«
»Jok, heute findet das königliche Turnier statt! Viel Glück!«
»Viel Glück, Jok, wir glauben an dich!«
»He, Jok, trink ein Bier mit uns!«
»Jok!«
Er lächelte, nickte und winkte, blieb aber nirgendwo stehen. Es verlangte ihn weder nach einem Krug schäumenden Bieres noch nach einer willigen Schönen. Heute um fünf Uhr am Nachmittag wollte er zum fünften Mal Turniersieger im Bogenschießen werden. Erst danach durfte er sich entspannen und seinen Erfolg
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