Schattenstunde
dich nicht?«
»Erinnern an was?« Sie runzelte die Stirn. »Ist alles okay mit dir, Chloe?«
Nein, ich war mir ziemlich sicher, dass das nicht der Fall war. »Du … äh, nicht so wichtig. Ich … ich habe gerade mit einem Mann geredet. Kannst du ihn sehen? Ist er hier?«
»Äh, nein. Bloß wir beide.« Ihre Augen wurden rund. »Siehst du Geister?«
»G-geister?«
»Chloe?«
Diese Stimme klang scharf, und ich fuhr herum. Ich entdeckte Mrs. Talbot, die sich in meine Richtung tastete. Ich drehte mich wieder zu Liz um. Es war niemand da.
»Chloe, was machst du hier oben?«
»Ich-ich-ich-ich … habe gedacht, ich habe … eine Maus gehört. Oder eine Ratte. Irgendwas ist hier oben rumgerannt.«
»Und du hast mit ihr geredet?« Tori erschien in der Dachbodentür.
»N-nein, ich-ich …«
»Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich dich ›Geist‹ hab sagen hören. Und du hast ganz entschieden mit irgendjemandem geredet. Anscheinend bist du nicht ganz so gesund, wie du gesagt hast.«
Mrs. Talbot brachte mir eine Schlaftablette und wartete, während ich sie schluckte. Sie sagte die ganze Zeit kein Wort zu mir, aber als ich ihre Füße in aller Eile die Treppe hinunterrennen hörte, wusste ich genau, dass sie Dr. Gill und Dr. Davidoff eine Menge zu erzählen haben würde.
Ich hatte es vermasselt.
Tränen brannten in meinen Augen. Ich wischte sie weg.
»Du kannst wirklich Geister sehen, stimmt’s?«, flüsterte Rae.
Ich sagte nichts.
»Ich hab gehört, was passiert ist. Du hast nicht mal jetzt vor, es mir gegenüber zuzugeben, oder?«
»Ich will hier raus.«
»Ganz große Neuigkeit. Das wollen wir alle.« Ein gereizter Ton begann sich in ihre Stimme zu schleichen. »Es ist okay,
die
anzulügen. Aber ich hab schon geglaubt, dass du Geister siehst, bevor du es selbst getan hast. Wer hat dich auf die Idee gebracht, den Typ zu recherchieren, den du in deiner Schule gesehen hast? Und du hast ihn recherchiert, oder etwa nicht? Du hast es bloß nicht nötig gehabt, es mir zu sagen.«
»Das ist nicht …«
Sie drehte sich auf die andere Seite, so dass sie mir den Rücken zuwandte. Ich wusste, ich sollte etwas sagen, war mir aber nicht sicher, was.
Als ich die Augen schloss, sah ich Liz vor mir, und mein Magen krampfte sich zusammen.
Hatte ich sie wirklich gesehen? Mit ihr geredet? Ich versuchte, eine andere Erklärung zu finden. Sie konnte kein Geist sein, denn ich hatte sie in aller Deutlichkeit gesehen und gehört – nicht so wie den Geist, der mich nach oben gerufen hatte. Und sie konnte nicht tot sein. Die Schwestern hatten versprochen, wir würden mit ihr reden können.
Wann
würden wir mit ihr reden können?
Ich versuchte, mich aufzusetzen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, es wissen zu müssen. Aber ich war so müde, dass ich nicht mehr klar denken konnte und auf die Ellbogen gestützt liegen blieb, während die Schlaftablette zu wirken begann.
Irgendwas mit Liz. Ich wollte wissen …
Mein Kopf fiel auf das Kissen zurück.
21
A ls ich am nächsten Vormittag zu einer Besprechung mit den beiden Ärzten gerufen wurde, tat ich im Hinblick auf Schadensbegrenzung mein Möglichstes. Ich blieb dabei, dass ich über die Ich-sehe-Verstorbene-Phase hinaus war und meine Diagnose akzeptiert hatte, aber mitten in der Nacht aufgewacht war und geglaubt hatte, eine Stimme gehört zu haben, die mich auf den Dachboden rief. Ich war verwirrt und schlaftrunken gewesen, ich hatte
geträumt
, Geister zu sehen, ohne sie wirklich zu sehen.
Dr. Gill und Dr. Davidoff schienen den feinen Unterschied nicht wirklich würdigen zu können.
Dann erschien Tante Lauren. Es war wie damals, als ich elf gewesen war und mich dabei hatte erwischen lassen, wie ich mir heimlich die Ergebnisse einer Klassenarbeit ansah – angestachelt von den neuen Mitschülern, die ich hatte beeindrucken wollen. Ins Büro des Schulleiters geschleift zu werden war übel genug gewesen. Aber die Enttäuschung auf Tante Laurens Gesicht zu sehen war schmerzlicher gewesen als jede Strafe.
An diesem Tag sah ich dort die gleiche Enttäuschung, und es tat nicht weniger weh als damals.
Am Ende konnte ich sie davon überzeugen, dass ich einfach einen kleinen Rückfall erlitten hatte, aber mir war klar, dass sie mir weniger bereitwillig glauben würden, wenn ich das nächste Mal behauptete, Fortschritte zu machen. Meine Überholspur zur Entlassung war hier jedenfalls erst mal zu Ende.
»Du wirst uns für die nächste Woche Urinproben zur
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