Schattensturm
und ließ das Gefühl aufkommen, über den Wolken zu schweben. Schneebedeckte Berggipfel ragten daraus hervor und deuteten die Konturen des Meeres darunter an. Vor dem blauen Himmel hingen weiße Schlierenwolken.
»Mein Volk verschwindet im Nebel«, murmelte Derrien.
Baturix war sich nicht sicher, ob Derrien mit ihm oder sich selbst gesprochen hatte, und wunderte sich darüber, ob eine Antwort erwartet war. »Herr?«
Derrien reagierte nicht, sondern starrte weiter über den Fjord.
Baturix beobachtete einen Fischadler, der sich von einer Warte noch oberhalb der Felsnadel erhob. Es war ein großer Vogel mit schlanken Schwingen, geknickt wie bei einer Möwe, weiß und schwarz gefiedert. Er kreiste ein paar Mal und sank dabei tiefer und tiefer, bis er schließlich im Nebel verschwunden war.
Ob der Adler wohl in dieser Suppe Beute macht?
»Du musst nach Trollstigen«, ergriff Derrien plötzlich das Wort, ohne sich zu ihm umzudrehen. »In der Nacht vom dreißigsten auf den einunddreißigsten. Du weißt, welcher Tag heute ist?«
»Es ist der zweiundzwanzigste, Herr.« Es war nicht einfach, in der Monotonie des Wachtpostens den Überblick über Tage und Wochen zu behalten, aber Baturix war ein sorgfältiger Mensch. Es wäre ärgerlich, wenn sich etwas Ungewöhnliches ereignen würde, von dem Baturix später nicht sagen konnte,
wann
es sich ereignet hatte.
Derrien nickte und nahm den Holzzylinder von seinem Rücken. »Darin befindet sich ein Stab. Du wirst diesen Stab die Treppe zur Festung hinauftragen und dort im Umkreis von zehn Metern des Tors anbringen, so, dass er nicht sofort gesehen wird, falls jemand aus dem Tor tritt. Dann ziehst du dich mit deinen Männern soweit zurück, dass du vom Glockenturm aus nicht mehr gesehen werden kannst. Einen von ihnen postierst du mit einem Pferd ganz unten am Ende der Treppe. Am einunddreißigsten wird auf der Festung gekämpft werden. Die Germanen werden Boten schicken, die Verstärkung bringen sollen, Boten, die nie ihr Ziel erreichen dürfen. Irgendwann später wird Trollstigen fallen. Der Sieger wird mit seinen Männern die Treppe herabkommen. Du wirst ihn auf ein Schwert ansprechen, das er mir schuldet. Gibt er es dir, steigst du mit deinen Männern die Treppe nach oben und triffst dich mit mir etwa zwei Stunden südlich der Festung. Die neue Garnison wird dich passieren lassen.«
Baturix nickte. »Ich habe verstanden. Was tue ich, wenn mir der Mann das Schwert nicht gibt?«
Derrien drehte sich zu ihm um und fixierte ihn mit seinenbraunen Augen. »Dann bist du wahrscheinlich in den nächsten Sekunden tot. Rüste den letzten deiner Männer mit einem Horn aus und verstecke ihn. Wenn er mitbekommt, dass der Anführer die Abmachung nicht einhält, soll er es blasen. Das ist das Signal für den Reiter am Fuße der Treppe, so schnell wie möglich nach Kêr Bagbeg zu reiten und die Germanen vor einer heranrückenden Armee zu warnen. Es wird weder dein Leben retten noch das deiner Männer. Aber so kannst du dir wenigstens sicher sein, dass dein Tod gerächt wird.«
Baturix nickte. »Jawohl, Herr.«
Derrien stand auf und klopfte ihm mit etwas freundlicherer Miene auf die Schulter. »Viel Glück, Baturix. Wenn alles gut läuft, sehen wir uns im November auf dem Pass. Mögen die Götter mit dir sein.«
»Und mit Euch.«
Baturix sah dem Druiden hinterher, während dieser das Seil hinabkletterte. Erst, als es wieder locker hing, ließ Baturix einen lauten Seufzer aus seiner Kehle entweichen. Er lehnte sich zurück und starrte nach draußen in den Nebel. Das Wetter passte sehr gut zu seinem Leben. Früher war es klar gezeichnet gewesen, mit Sonnenschein und Regen, sein Weg war zu jeder Tageszeit deutlich erkennbar gewesen. Jetzt hingegen fühlte es sich so an, als stolperte er durch Nebel, ohne zu wissen, wohin, ohne zu wissen, warum, der Tod ein ständiger Begleiter. Er war ein ordnungsliebender Mensch und konnte nicht von sich behaupten, dass ihm diese Veränderung irgendeine Freude bereitete.
Wer wohl dieser Heerführer war, der am einunddreißigsten die Festung angreifen würde? Die Umstände, die ihm Derrien beschrieben hatte, klangen alle reichlich mysteriös. Zuerst hatte er an die Helvetier gedacht, doch das ergab wenig Sinn. Fürst Cintorix hatte vor nichts zurückgescheut, um die Neutralität seines Stammes im heraufziehenden Konflikt zwischen Kelten und Germanen zu bewahren.
Vor nichts. Nicht einmal davor, meinen Sohn töten zu lassen.
Er ballte die Hand zur Faust
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