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Schattensturm

Schattensturm

Titel: Schattensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Saumweber
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waren nicht abgesperrt, die Fenster nicht verschlossen, und es gab nichts, was Veronika daran gehindert hätte, in den Tagen seit ihrer Ankunft zu verschwinden. Doch was hätte sie tun, wohin hätte sie sich wenden sollen? Draußen in der Welt suchte man nach ihr, und zwar nicht nur als Mörderin an Feldwebel Ulrich. Sie hatte bei ihrem Ausbruch einen Wachmann getötet, einen weiteren verstümmelt, einem dritten mindestens die Nase gebrochen und ein paar Zähne ausgeschlagen. Man würde sie einsperren bis an ihr Lebensende. Und man würde dafür sorgen, dass ihre Gefangenschaft dort zu ihrem persönlichen Vorgeschmack der Hölle werden würde.
    Vor einer Woche noch hatte sie sogar geglaubt, dass sie in das Gefängnis gehörte. Ihre Erinnerungen waren so bizarr gewesen, dass sie an ihrem Verstand gezweifelt und sich selbst für eine Mörderin gehalten hatte. Doch inzwischen hatten sich die Vorzeichengeändert. Ihr Kampfsinn war Realität. Ihre Vorahnungen waren Realität. Das Schwert um ihren Hals, das kleine Medaillon, das ihr Sven Lukas zurückgegeben hatte, war Realität. Außerdem war es die Tatwaffe, mit der sie Ulrich getötet hatte. Inzwischen glaubte sie ihren Erinnerungen.
    Und so verbrachte sie lange Tage in dem Anwesen. Tage, in denen sie nervös und unruhig die Korridore auf und ab ging, am Fenster saß und sehnsüchtig die Frühlingstage beobachtete und von besseren Zeiten träumte, vor der Bundeswehr. Manchmal nahm sie auch ihr Medaillon in die Hand und dachte traurig an ihren Großvater, der nach Ende des Zweiten Weltkrieges in den Wirren der Nachkriegszeit in Norwegen gefallen war, und an ihren Bruder Thorsten, der sich dort umgebracht hatte. Sie überraschte sich selbst damit, dass sie kaum über die Geschehnisse im Gefängnis nachdachte. Auch Ulrichs Mordversuch schien sie nicht weiter zu belasten. Stumpfte sie langsam ab? Starben ihre Emotionen mit jedem schrecklichen Ereignis, das sie erlebte?
    Sie ernährte sich aus einem kleinen Kühlschrank, der als einziges Einrichtungsstück in einer kleinen Küche stand und leise vor sich hin summte, angefüllt mit in Folie abgepacktem Käse, Wurst und Fleisch. Daneben hatte sie einen mit Weißbrot gefüllten Brotkorb vorgefunden und zwei Kästen mit Mineralwasser. Abends legte sie sich in den Schlafsack, der zusammen mit einer Luftmatratze im Erdgeschoss bereitgelegt war, und wunderte sich darüber, was das alles sollte und warum niemand kam, um sie abzuholen. Der Krieg, von dem Sven Lukas erzählt hatte, schien offenbar nicht allzu dringlich zu sein.
    Doch als sie in dieser Nacht einschlief, träumte sie nicht von irgendwelchen Dschungelkämpfen in Afrika oder Südamerika, in die sie von Lukas geschickt wurde. Ihr Traum in dieser Nacht war bizarrer.
    Es war dunkel um sie herum, obwohl von draußen der Flackerschein eines Lagerfeuers zu sehen war. Sie befand sich noch immer in einem Gebäude. Doch anstelle des großen, leeren Saalsmit dem glatten Parkettboden lag sie nun in einer kleinen Hütte. Eine Mauer war teilweise eingefallen und gab die Sicht nach draußen frei, der Boden bestand aus alten Holzplanken, zwischen denen Grasbüschel sprossen. Neben dem Knacken des Feuers drangen auch vereinzelt Gitarrenklänge von draußen.
    Sie selbst lag noch immer in dem blauen Synthetik-Schlafsack, nur mit ihrem Slip und einem T-Shirt bekleidet. Neben ihrem Kopf befand sich jedoch ein Stapel Klamotten, auf dem merkwürdigerweise ihr Medaillon lag. Veronika verstand die Aufforderung, kroch aus dem Schlafsack und schlüpfte in die Kleider. Es waren grobe Sachen aus Wolle, die nach Schaf rochen und ihr mindestens zwei Nummern zu groß waren. Immerhin war es besser, als halbnackt durch die Gegend zu laufen, selbst in einem Traum. Außerdem waren sie
warm
. Dann warf sie sich den Schlafsack wie eine Decke um die Schultern und trat durch das fehlende Mauerstück nach draußen.
    Ein Mann saß dort im Schneidersitz am Feuer, eine Gitarre im Arm, den Kopf darüber gebeugt, so dass ihm seine braunen Haare ins Gesicht fielen. Er trug Hosen aus fellbesetztem Leder und ein Hemd aus Wolle. Sein Umhang war vor seiner Brust mit einer runden Fibel aus rotem Kupfer geschlossen und diente ihm auch als Sitzunterlage. Als er sie bemerkte, hielt er mit seinem Spiel inne und erklärte mit ernster Stimme: »Willkommen, Gudrun. Ich habe dich erwartet.«
    Veronika zog eine Augenbraue nach oben und schmunzelte. Der Traum versprach, unterhaltsam zu werden. »Hi«, begrüßte sie den Fremden.

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