Schattensturm
fuhr die Schotterpiste entlang zu einer Landstraße, auf deren Alleebäumen die ersten grünen Blätter sprossen. Zwischen den Bäumen standen gelb und weiß blühende Büsche. Die Sonne schien aus einem beinahe wolkenfreien Himmel auf flaches, von grünen Feldern bedecktes Land.
»Wo sind wir hier eigentlich?«, fragte sie ihren Fahrer schließlich.
»Schorfheide-Chorin«, erklärte Armin. »Das Naturschutzgebiet.«
»Und wohin fahren wir?«
»Zum Lager in der Schorfheide.«
»Was für ein Lager?«
Er warf einen kurzen Blick zu ihr. »Wolfgang hat mir verboten, mit Ihnen darüber zu sprechen, Frau Hauptmann.«
»Was?!« Die Erwähnung des Namens aus ihrem Traum machtesie so perplex, dass sie sich gar nicht mehr darüber wundern konnte, weshalb er sie wohl als Hauptmann betitelte.
Wolfgang!
Konnte das sein? Sie hatte ihn geträumt! Sie schnaufte tief durch und strich sich mit der Hand über die Stoppeln auf ihrem Kopf.
Wie naiv man doch sein kann!
Nach all dem, was sie inzwischen erlebt hatte, hätte sie sich eigentlich denken können, dass auch in ihren Träumen mehr Wahrheit steckte als sie bisher vermutet hatte. Und nun hatte Wolfgang Armin verboten, mit ihr zu sprechen? Nachdem er heute Nacht so dringend darauf aus gewesen war, ihr Dinge zu erklären? Dieser Schuft! Sie jetzt so auf die Folter zu spannen! »Na prima!«, maulte sie und ließ sich tiefer in ihren Sitz zurücksinken.
Die Landstraße führte bald in ein Waldgebiet, wo sie auf einen Feldweg abbogen. Dort fuhren sie etwa zwanzig Minuten lang tiefer und tiefer in den Wald. Einmal begegnete ihnen ein Geländefahrzeug, dessen zwei Insassen kurz die Hand zum Gruß erhoben und an dem Armin geschickt vorbeisteuerte. Schließlich erreichten sie eine rot-weiß lackierte Schranke, neben der zwei Männer auf einem gefällten Baumstamm saßen. Sie standen auf, als sie das Geländefahrzeug kommen sahen, und öffneten die Schranke. Armin nickte ihnen kurz zu und lenkte seine Konzentration dann wieder auf den Weg, der sich nun einen Hügelkamm emporwand.
Dahinter befand sich eine enorme Waldlichtung, bis auf ein paar Felder übersät mit Hütten und Zelten. Überall waren Menschen, Hunderte, nein, Tausende, die dort umherwuselten wie Ameisen in ihrem Stock. Und es waren bei weitem nicht nur Männer – Veronika sah mindestens genauso viele Frauen sowie zahlreiche Kinder. Sogar einige Alte waren zu sehen, die vor den Zelten saßen oder in kleinen Gruppen beisammen standen und sich unterhielten. Es gab auch Pferde und Kühe und Schafe und Ziegen, teilweise in Koppeln eingezäunt, teilweise jedoch auch frei zwischen den Zelten herumlaufend.
Bis auf drei weitere Geländefahrzeuge und einen großen Schuppen aus Wellblech war den Leuten und ihren Behausungen jedocheines gemeinsam: Alles schien auf alt getrimmt zu sein. Auf mittelalterlich alt oder vielleicht sogar noch älter. Veronika musste sofort an Wolfgang denken, denn die Leute dort unten trugen Kleider in ähnlichem Stil, aus Fell, Wolle, Leinen und Leder, schmutzig und zum Teil zerlumpt. Die Zelte vermittelten den selben Eindruck, und selbst die Hütten waren in einem längst veralteten Baustil errichtet.
»Was um alles in der Welt ist das?«, stieß Veronika fassungslos aus. »Ein Pfadfinderlager?«
»Wir sind gleich da, Frau Hauptmann«, wich Armin der Frage aus und steuerte den Wagen auf einen Parkplatz neben den anderen Fahrzeugen.
Was ihr als Allererstes auffiel, war der Gestank. Es roch ganz eindeutig nach Kanal, oder besser nach fehlendem Kanal, so intensiv, dass Veronika würgen musste. Sie drehte sich um, lehnte sich gegen den Wagen und versuchte, ihren Magen unter Kontrolle zu bringen.
»Es hilft, wenn man ganz flach durch den Mund atmet«, erklang eine ihr bekannte Stimme. »Aber man gewöhnt sich sehr schnell daran.«
Veronika wandte sich um. »Du!«, stieß sie aus, als sie Wolfgang erblickte, der aus dem Schuppen getreten war, die Arme in den Einstecktaschen eines mittelalterlich wirkenden Pullovers, ein breites Grinsen auf den Lippen. »Es war nicht nett, Armin den Mund zu verbieten!« Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und starrte ihn böse an.
Wolfgang lachte jedoch nur. »Es war nicht nett von dir, mich heute Nacht sitzen zu lassen!« Sein Blick ging zu Armin.
» Olat
, Armin.«
Der Junge verbeugte sich kurz, zog den Schlüssel des Wagens ab und verschwand in dem Schuppen.
»Und was jetzt?«, fragte Veronika, nachdem er gegangen war. »Willst du mir jetzt erklären, was
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