Schattensturm
Verwesungsaroma dazu. Hinzu kamen die Geräusche: das Jammern, das Stöhnen, das Beten, das Schreien, das Flehen. Keelin war fünf Jahre lang Krankenschwester gewesen, bevor sie vor einem halben Jahr in die Innenwelt gekommen war. Der Beruf war stressig gewesen, doch auf dashier hatte er sie nicht vorbereiten können. Ihre Erschöpfung half ihr immerhin dabei, sich von alledem zumindest geistig zu distanzieren.
Gerade beugte sie sich über den blutigen Verband eines Unterschenkelstumpfes. Der Mann war während der Schlacht in einen Nagel eines zerbrochenen Weidezaunes getreten und hatte sich eine Entzündung zugezogen. Keelin hatte sie nicht stoppen können und deshalb vor zwei Tagen den Fuß abgeschnitten. Dem Mann – einem Bretonen – ging es seitdem nicht besser. Sie roch einmal und verzog das Gesicht. Der Stumpf verströmte noch immer einen süßlich-fauligen Geruch. Sie brauchte gar nicht unter den Verband sehen, um zu wissen, dass die Amputation die Infektion nicht aufgehalten hatte.
»Amputationsbesteck«, befahl sie ihren Helfern und ging weiter.
Sie konnte nicht bei ihrem Patienten bleiben und warten. Sie hatte keine Zeit. Bis ihre Helfer alles vorbereitet hatten, sah sie sich vier weitere Verletzungen an. Zwei davon waren Schwertwunden, beide infiziert, aber für den Moment nicht fortschreitend. Die Verbände mit Paste aus Weidenrinde und Einbeere schienen ihnen gutzutun. Der dritte hatte eine zusammengefallene Lunge nach einer Brustverletzung. Der Mann hatte unglaublicherweise keine Infektionszeichen, die Wunde heilte sauber ab. Vielleicht würde er die Lungenhälfte verlieren, vielleicht auch nicht, darauf hatte sie keinen Einfluss, aber er würde es überleben. Der vierte schließlich war eine Pfeilschussverletzung im Oberschenkel. Die Entzündung hatte den Bauchraum erreicht und war nicht mehr aufzuhalten. Ohne rohe Heilung würde der Mann sterben, und die beiden Rohheiler hatten längst nicht mehr genügend Energie für solch anstrengende Zauber.
»Der Waliser mit der Lunge kann gehen«, meinte sie zurück bei ihren Helfern. »Der wird bei uns nicht mehr besser.«
Inzwischen hatte jemand den Verband von dem Unterschenkelstumpf entfernt und das Bein gewaschen. Keelin warf nur einenkurzen Blick auf den eitrig-gelben Stumpf und das hochrot geschwollene Knie und wusste, dass sie recht gehabt hatte. Eine weitere Amputation war unvermeidlich. Sie beugte sich über das bereitgestellte Becken mit kochendem Wasser und wusch sich darin die Hände. Gedankenlos ließ sie den Schmerz davonströmen, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen. Die Kraft der Schmerzbeeinflussung war in ihr stark geworden in den letzten Tagen. Sie hatte auch mehr als genug Übung bekommen.
Während ihre Hände die Verbrühung heilten, kontrollierte sie, ob alles da war. Es gab saubere Tücher, einen zweiten Bottich mit gekochtem Wasser, die Tasche mit den Kräutertinkturen. Scott MacNevin, einer ihrer Gefolgsleute, der inzwischen zu ihrer rechten Hand geworden war, hielt schon die Handbügelsäge bereit. Er hatte sich eine einigermaßen saubere Schürze aus Leinenstoff umgebunden. Vier weitere Helfer, ihre Kleider dreckverschmiert von ihrer Arbeit als Pfleger, hatten Riemen um die Gliedmaßen des Schotten geschlungen und waren bereit, ihn festzuhalten. Ihre Mienen waren leer und mitleidslos. Sie hatten während der letzten Woche nicht weniger gearbeitet als Keelin und auch nicht weniger gesehen.
Keelin schlüpfte in eine weitere Schürze. Sie war blutig, doch das ging nicht besser. Die primitiven Faserstoffe der Innenwelt konnten nicht allzu oft gekocht werden, bevor sie zerfielen. Wenn sie sie nach jeder Operation waschen würden, hätten sie schon lange nichts mehr anzuziehen.
Sie legte eine Hand auf den Oberschenkel ihres Patienten und fragte in die Runde: »Bereit?« Nachdem ihre Helfer zugestimmt hatten, nickte sie dem Schotten zu.
Scott setzte die Säge an, etwa handbreit oberhalb des Knies, aber unterhalb Keelins Hand. Der verletzte Bretone folgte der Bewegung mit stierendem Blick und gebleckten Zähnen, mit denen er auf einen Beißkeil biss, als ginge es um sein Leben.
Dann ging es los. Scotts Oberarme spannten sich an, kraftvoll grub sich die Säge in das Fleisch, Blut rann zu beiden Seiten ausder frischen Wunde. Der Bretone gab einen erstickten Schrei von sich und versuchte sich aufzubäumen. Keelins Helfer hielten grunzend dagegen. Scott war schnell durch die Muskulatur und traf mit einem raspelnden Geräusch auf Knochen.
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