Schattensturm
sich geht. Ich bewundere Euren Mut und Eure Entschlossenheit, gegen meinen Stamm vorzugehen! Ist es wirklich Eure Absicht, unseren Rat in einen Bürgerkrieg zu treiben? Ist es das?«
»Ihr seid komplett verrückt«, erklärte die Spinne kalt und herablassend. »Ihr habt keine Ahnung, wovon –«
» Ihr
habt keine Ahnung!«, fiel ihm Derrien ins Wort. Es war etwas, worauf er schon lange gewartet hatte. »Oder wisst Ihr, dass Euer Mann Baturix heute dort draußen beinahe gesteinigt worden wäre? Was ist passiert, dass Ihr plötzlich so blind seid gegenüber dem, was um Euch herum geschieht? Kommt Ihr nicht damit klar, dass eine Frau die Schlacht für Euch gewonnen hat?« Cintorix’ Augen blitzten zornig, und er setzte schon an, etwas zu erwidern, doch Derrien gab ihm keine Gelegenheit dazu. »Oder hat Euch der gerechte, felsenfeste Medredydd dazu gebracht, den Männern Euren Rücken zuzukehren und die Gerechtigkeit Euren Gardisten zu überlassen?«
Er musste Luft holen, und in diese Lücke stieß die Spinne ihre Worte: »Derrien! Ihr werdet still sein, jetzt! Verlasst auf der Stelle diese Halle, und vielleicht,
vielleicht
, aufgrund Eurer Verdienste inder Vergangenheit, werde ich ignorieren, was Ihr soeben gesagt habt!«
»Und was, wenn nicht?«, höhnte Derrien. »Was wenn ich nicht still bin? Oder wenn Ihr es nicht vergesst? Was dann?«
»Ihr vergesst, mit wem Ihr sprecht!«
»Oh, nein!
Ihr
vergesst, mit wem Ihr sprecht! Ihr sprecht mit Derrien Schattenfeind, Anführer der Waldläufer, dem Mann, der den Rat zu Dùn Robert 2 vor beiden Kriegen gewarnt hat, dem Helden von Trollstigen, dem Bruder von Ronan, dem Heroen von Trollstigen und Jostedalsbreen, dem Sieger der Schlacht von Espeland! Und wer seid
Ihr
? Der Feldherr der Ratsarmee. Obmann des Rates. Was wird wohl passieren, wenn ich Eure Stellung dort anfechte? Wem werden die Männer folgen? Einem Fürsten, der gerade einmal einen Feldzug befohlen, eine Schlacht gewonnen hat, knapp und unter größten Verlusten? Oder einem Mann, der seit mehr als zwanzig Jahren Krieg führt gegen die Nain? Was glaubt Ihr wohl?«
Cintorix erwiderte nichts. Der Feldherr zitterte vor Zorn,
o ja
, vermutlich passierte es nicht oft, dass die Spinne mit ihren Ahnen um ihre Selbstbeherrschung ringen musste, doch seine bewundernswerte Disziplin hielt ihn auch jetzt zurück. Derrien
liebte
selbstbeherrschte Männer, durch die seine Wut pflügen konnte wie eine stählerne Pflugschar durch weiche Erde.
»Die Fürstin Aouregan ist Ronans Nachfolger«, erklärte er, »und somit Nerins Vertreter. Ich erkläre hiermit auch Seog zum Fürsten. Es ist höchste Zeit, dass die Bretonen eine zweite Stimme im Rat erhalten, nachdem inzwischen jedem klar sein sollte, dass weder Nerin noch ich dort jemals erscheinen werden. Ich hoffe, dass den beiden die Ehre erwiesen wird, die ihrem Rang entspricht. Gehabt Euch wohl.«
Damit wandte er sich um und schritt zum Ausgang. Nach zwei Schritten machte er auf dem Absatz kehrt, ging zu ihnen zurückund ergriff das Buch. »Ich glaube, das gehört mir«, erklärte er. Er verließ endgültig das Gebäude und wunderte sich darüber, wie lange die beiden Häuptlinge brauchen würden, bis sie ihre Sprache wiederfanden.
KEELIN
Feldlager der Ratsarmee, nahe Bergen, Norwegen
Donnerstag, 15. April 1999
Die Innenwelt
Im Verwundetenunterstand herrschte ewiges Zwielicht. Die Tage seit der Schlacht waren dunkel, die Wolken hingen grau und tief über dem Land. Das Tageslicht war so spärlich, dass die Heiler Öllampen und Fackeln verwenden mussten, um ausreichend zu sehen.
Und das, was zu sehen war, war alles andere als ermutigend. Reihe um Reihe lagen die Verwundeten in den improvisierten Feldbetten aus frischem Holz und zurechtgeschnittenen Zeltplanen, und es wurden jeden Tag mehr statt weniger. Ungefähr die Hälfte der Männer hier litt nicht an Verletzungen von der Schlacht, sondern an der Ruhr, die vor zwei Tagen im Lager ausgebrochen war.
Keelin bewegte sich durch die Reihen wie eine Tote. Zwanzig Stunden arbeitete sie jeden Tag seit der Schlacht, und die war nun neun Tage her. Sie hatte vergessen, wie es sich anfühlte,
nicht
zu Tode erschöpft zu sein.
Der Unterstand roch wie eine Kloake. Viele der Männer konnten die blutigen Durchfälle der Ruhr nicht halten, und im Lazarett gab es nicht einmal
annähernd
genügend Leute, die sich um den entstehenden Dreck kümmern konnten. Wunden eiterten und faulten und mischten ihr süßliches
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