Schattensturm
abgeschossen und ihre Soldaten eine ganze Nacht lang am Boden festgesetzt. Es war ein fürchterlicher Tag. Die Luft war voll von Hubschraubern und dem Qualm brennender Autoreifen, das Gewehrfeuer aus dem Stadtzentrum klang so, als ob die Amis einen kompletten Krieg vom Zaun gebrochen hätten.« Sie seufzte. Eine Zigarette wäre nicht schlecht. Normalerweiserauchte sie nicht, nur in außergewöhnlichen Situationen hatte sie den Drang nach einem Glimmstängel. So wie jetzt. Sie erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Zu gut.
Ihr Blick starrte ins Leere, als sie weitererzählte. »Wir wurden angegriffen. Aber wir bemerkten es nicht, wir waren zu sehr mit den verwundeten Somalis beschäftigt, die auf unseren OP-Tischen lagen. Die somalischen Paramilitärs haben schon immer ihre Waffen in das Krankenhaus mitgebracht, wenn sie ihre Verwundeten bei uns ablieferten. Diesmal schossen sie auch. Von den Sanitätern aus dem Westtrakt des Gebäudes hat es kein einziger lebend nach draußen geschafft. Ich saß zwischen zwei Operationen im Aufenthaltsraum, habe eine Zigarette geraucht und einen Kaffee getrunken, als plötzlich ein Sanitäter« –
Hübner, es war Hübner
– »hereingestürmt kam und herumbrüllte, ›Wir müssen hier weg! Sie sind überall!‹ Und das waren sie auch. Sie waren im Treppenhaus, sie waren auf dem Dach, sie waren bereits in den Stockwerken unter uns. Nur das Nottreppenhaus hatten sie vergessen. Die Ärzte haben den armen Somalier, den sie gerade operiert hatten, auf dem Tisch zurückgelassen, den Schlauch im Mund, die Bauchhöhle offen, aber es war das einzig Richtige. Wenn wir auch nur fünf Minuten weitergemacht hätten, hätten sie uns auch noch gekriegt. Also sind wir ab durch dieses Nottreppenhaus, ohne Waffen, ohne Ausrüstung. Wir hatten
nichts
. Und dann war da plötzlich dieses Gefühl, dass sie die Waffenkammer übersehen hatten. Dieser Instinkt war stärker als meine Angst. Gemeinsam mit fünf oder sechs Mann aus meinem OP-Team bin ich aus dem Treppenhaus raus den Gang entlang zum Magazin. Es war unbewacht und abgeschlossen, aber einer der Ärzte hatte eine Pistole. In dem Moment habe ich gedacht, ich packe es nicht, da hat dieser Arzt die ganzen Monate über, wenn er am OP-Tisch gestanden und operiert hat, eine geladene Pistole irgendwo unter seinem OP-Kittel getragen, doch das rettete uns das Leben. Er hat das Schloss aufgeschossen, wir sind rein und hatten Waffen. Und dann sind wir davon, fünfzehn Mann.«
Sie verzog das Gesicht. »Draußen war es fürchterlich. Sobald sie uns entdeckt hatten, jagten sie uns. Mein Instinkt warnte mich vor ihren Hinterhalten und Angriffen, aber wer hörte schon auf den Instinkt einer kleinen blonden Sanitätsgefreiten? Acht von den Fünfzehn wurden schwer verletzt oder kamen um. Wir haben sie zurückgelassen. Der Rest war schließlich bereit, auf mich zu hören. Wir sind gelaufen bis in die Nacht, die Somalis dicht auf unseren Fersen. Bis wir an die Kirche gekommen sind, eine christliche Kirche, geführt von einem deutschen Priester. Er hat uns versteckt. Sonst wären wir dort
niemals
herausgekommen.« Sie ließ eine lange Pause, schüttelte dann den Kopf. »Der Priester hat uns dann in der Nacht erzählt, wie es zu dem ganzen Schlamassel gekommen war. Offenbar hatten die Amis ein paar Wochen zuvor ein Treffen eines Ältestenrates bombardiert, seitdem waren wir Weißen ein rotes Tuch für die Somalis. Bloß dass wir nichts davon mitgekriegt haben – zu uns waren sie ja immer ganz freundlich, wir haben ja schließlich ihre Leute versorgt. Aber es gibt
immer
welche, die alle über einen Kamm scheren. Und für die waren wir an diesem Tag genauso Weiße wie die Amis und sollten dafür sterben.« Veronika sah auf in das Meer neugieriger Gesichter, derer sie sich erst langsam wieder bewusst wurde. »Tja, und das war’s«, beendete sie ihre Erzählung. »Das war Somalia.«
»Und was ist mit der zweiten? Ihr habt gesagt, das nach Somalia war Eure
erste
Feldbeförderung!« Es war schon wieder der Junge von vorhin. Er bekam auch prompt wieder eine Kopfnuss von Ludovic, die er jedoch ignoriere.
Doch Veronika lachte nur. »Diese Geschichte hebe ich mir für ein anderes Mal auf!«
Die Leute murrten enttäuscht. Doch Veronika hatte keine Lust mehr, auch noch über Sarajevo zu erzählen. Die Erinnerung an Mogadischu hätte ihr fast die Laune verdorben. Aber nur fast. Denn sie hatte Wolfgang unter ihren Zuhörern erspäht, der sich inzwischen jedoch weggedreht
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