Schattentänzer
Zweige der Goldbirke hinauf in den Himmel.
Nach der Finsternis in den Beinernen Palästen, in denen es nur muffig und nach toter Zeit gerochen hatte, versetzte mich der Anblick des Himmels in kindliche Begeisterung. Selbst wenn ich nicht wusste, wie weit es mich vom Osttor, an dem meine Freunde auf mich warteten, entfernt hatte – Hrad Spine lag hinter mir! Etwas zu essen würde ich schon finden, und die Gefahr, in ernstliche Schwierigkeiten zu geraten, schien mir hier weit geringer als unter der Erde. In Hrad Spine hätte ich am Ende doch nur ein weiteres Grab gefüllt, da brauchte ich mir nichts vorzumachen.
Freilich sollte ich in Erfahrung bringen, wo ich mich befand. Sicher, ich war in Sagraba, im Goldenen Wald, das begriff selbst der dämlichste Doralisser. Aber wo genau? Und wie lange brauchte ich, um die anderen zu erreichen? Wobei die viel entscheidendere Frage die war: In welcher Richtung lag das Osttor überhaupt? Wenn ich ohne Kenntnis des Weges durch Sagraba irren wollte – könnte ich ja auch gleich ohne Kenntnis des Weges durch Sagraba irren. Vermutlich blieb mir nur eine Möglichkeit: nach Norden zu gehen und darauf zu hoffen, dass ich aus dem Goldenen Wald herauskäme und an einen bekannteren Ort, vielleicht sogar in ein Dorf gelangte. Alles Weitere würde sich dann finden. Außerdem hoffte ich auf das Amulett von Egrassa, das mich ja nicht nur vor den Totenwächtern des Kajus beschützt hatte, sondern dem Elfen angeblich auch verriet, wo ich mich aufhielt. Möglicherweise eilten mir die anderen ja schon entgegen …
Ein goldenes Blatt segelte in einem großen Bogen zu Boden und landete genau auf meinem Gesicht. Ich klaubte den vorwitzigen Flieger von meiner Nase und warf ihn weg.
Soll mich doch der mieseste aller Dämonen fressen! Die Blätter fielen. Während ich durch die unterirdischen Paläste gestolpert war, hatte der Herbst endgültig in Sagraba Einzug gehalten.
Ich sollte zusehen, den Wald hinter mir zu lassen, bevor die Regengüsse und die Kälte einsetzten, auf die schon bald Frost folgen würde. Bloß in einem Pullover würde ich sonst früher oder später erfrieren.
Zu meinem Glück war ich ja bei For in die Lehre gegangen, so dass selbst ich, ein alteingesessener Städter, zu bestimmen vermochte, wo Norden lag. Es wäre schön, wenn ich einen Pfad fände, das wäre einfacher, als mich durch die Sträucher zu schlagen. Und vielleicht schaffte ich es obendrein auch noch, eine Begegnung mit einem Wolfsrudel zu vermeiden.
Sagraba zeigte sich wie immer in seinem prachtvollsten Gewand. Sein Herbstkleid leuchtete in allen Farben. Der Wald ertrank in Rot und Gold. Die Rotsträucher hatten sich von ihren Blüten verabschiedet, strahlten in sattem Gelb und gingen fließend in die Goldbirkenhaine über, die ihrerseits dem feurigen Rot der Eberesche und Espe wichen. Inmitten all dieses Goldes bildeten die blauen Blätter der Buche märchenhafte Inseln. Nur die finsteren Tannen widersetzten sich dem triumphierenden Herbst mit ihrer schmutzig grünen Farbe. Der Boden war mit einer dicken Laubschicht bedeckt. Es wehte kein Wind, alles war in Stille versunken. Ich hatte den Eindruck, das einzige Lebewesen in ganz Sagraba zu sein.
So lief ich den ganzen Tag über. Obwohl ich keinen Pfad entdeckte, kam ich mühelos voran. Mir machten weder entwurzelte Bäume noch Sümpfe das Leben schwer. Einmal kreuzte ein kleiner Bach meinen Weg, der zwischen den massiven Wurzeln der Goldbirke dahinplätscherte. Der Gute war so freundlich, sein Wasser mit mir zu teilen.
Die Dämmerung bricht im Wald (noch dazu im Herbst) recht schnell herein. Es gelang mir gerade noch, einen Rastplatz am Stamm einer alten Erle zu finden, dann war alles stockduster. Am Himmel stand kein einziger Stern, die kleine Scheibe des Vollmonds schien lediglich ein schaler Abklatsch dessen zu sein, was im Hochsommer am Firmament prangte.
Ich aß etwas von den Früchten aus der Ameisenhöhle, auch wenn sie mir bereits zum Hals heraushingen. Da ich einfach nicht müde werden wollte, saß ich nur da und stierte in die Dunkelheit des nächtlichen Waldes. Nach einer Weile flammten in den Nachbarbäumen bunte Lichter auf: Die Waldgeister erwachten. Erstaunt betrachteten die roten und grünen Funken den Menschen, der wie aus dem Nichts in ihrem Wald aufgetaucht war. Ich zweifelte nicht im Geringsten daran, dass die Geister hitzig über das Wunder namens Garrett stritten. Sollten sie doch – solange sie mir nicht zu nahe kamen! Irgendwann
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