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Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Schattentag: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Schattentag: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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im Garten und korrigiert Mathematikarbeiten. Wie viel macht vier mal fünf? Von Zeit zu Zeit sieht sie hinüber zum Haus der Mikelsens, weil sie das Gefühl hat, da müsste Mikelsen stehen und winken. Aber die Mikelsens sind noch im Urlaub.
    Weit entfernt höre ich den altersschwachen Motor der Fähre.
    Ich könnte Vera anrufen, nur um ihre Stimme zu hören.
    Sandra geht heute zum ersten Mal seit dem Unfall wieder reiten. Wenn sie sich das zutraue, solle sie bald wieder anfangen, hat der Arzt gesagt. Vera wird sie hin- und wieder zurückfahren.
    Jede Geschichte hat zumindest einen Anfang.
    Mein Kompagnon und seine Frau Klarissa. Ab und zu treffen wir uns und sehen Sandra und Olli dabei zu, wie sie älter werden.
    Klarissa hat mir während einer Silvesterfeier vor einigen Jahren erzählt, dass sie meinen Kompagnon mit einem Friseur betrügt.
    Die Beerdigung meiner Mutter. Vera und ich sitzen auf dem Bett im Gästezimmer im ersten Stock des Reihenhauses meiner Eltern. Sandra schläft. Mein Vater hat sich gleich nach der Trauerfeier auch schlafen gelegt. Er liegt unten auf dem Sofa im Wohnzimmer. Durch die geöffnete Tür kann ich ihn hören, leise, aber deutlich. Er schnarcht und spricht im Schlaf. Ab und zu stehe ich auf und sehe durch das Fenster des Gästezimmers in den Garten hinab. Der Garten liegt in Nebel.
    Ich habe den Friedhofsgärtner nach der Beerdigung meines Vaters gebeten, zwei Mal in der Woche das Grab meiner Eltern zu pflegen, und überweise ihm seitdem einen geringen Betrag.
    Später relativiert Klarissa die Sache mit dem Friseur. Ich solle es nicht wörtlich nehmen. Sie gibt mir einen flüchtigen feuchten Kuss und weint.
    Jede Geschichte wirft zumindest eine Frage auf.
    Zum Beispiel: Wie viele kleine Tode machen ein Leben?
    Vera korrigiert Mathematikarbeiten von Kindern.
    Mein Vater schnarcht und spricht im Schlaf. Wir verstehen die Worte nicht, wir hören ihn vom Gästezimmer aus nur leise sprechen.
    Vera krault meinen Rücken, unermüdlich, stundenlang.
    Die Grundfarbe ist Grau. Das Leben steht still.
    Vielleicht wüsste ich die Antwort, wenn ich damals aufgestanden und zu meinem Vater gegangen wäre, um zu hören, was er im Schlaf gemurmelt hat.
    Auch er selbst wird es nicht mehr gewusst haben, als er aufwachte.
    Das Leben steht still. Sturm kommt auf.
    Natürlich könnte ich Sandra und Vera heute Abend überraschen und als Erster beim Reiterhof sein. Wenn ich die nächste Fähre ans Festland erwische, müsste ich gerade rechtzeitig ankommen.
    Vorausgesetzt, der Kahn geht nicht in meinem Beisein unter.
    Ein Lied, das vergessen war. Ein Lagerfeuer. Ein blauer Bus. Eine wirre Geschichte. Ein Mädchen. Wasser. Sternenklarer wolkenloser Himmel. Wein.
    »Sturm kommt auf«, sagt das Mädchen.
    Ich suche ihre Augen im Dunkel.
    »Wollen wir wetten?«, sagt sie.
    »Wenn du willst«, sage ich.
    Wir wetten um das letzte Viertel Wein und gehen zurück zum Lagerfeuer. Einige liegen schon in den Schlafsäcken. Es ist warm und windstill, und irgendwann schlafen alle außer uns beiden. Wir sitzen nebeneinander, so nah, dass wir uns berühren. Wir reden leise, ich weiß nicht, worüber. Das Feuer knistert vor sich hin und beginnt, langsam und kaum merklich in Nichts zu versickern.

18
    Ich sitze auf dem Boden in unserem roten Holzhaus. Meine Hände zittern ein wenig, während ich den Stift über das Papier führe. Lauer Wind weht herein, und der Polizist kommt zu früh, aber besser früh als gar nicht.
    »Da sind Sie ja«, sage ich.
    »Wie bitte?«, fragt der Polizist. Ich sehe seinen Schattenriss auf der Schwelle der Terrassentür.
    »Da sind Sie ja. Ich muss Ihnen etwas zeigen.«
    »Ihre Augen scheinen bestens zu funktionieren.«
    »Ihr Schattenriss ist unverkennbar.«
    »Sie haben mich erwartet?«
    »Ich habe etwas für Sie. Etwas, das Ihnen weiterhelfen wird.«
    »Ich bin gespannt.«
    »Hier.« Ich reiche ihm den Zettel, auf dem ich begonnen habe, alles niederzuschreiben. Ich strecke meine Hand in seine Richtung. Er nimmt den Zettel.
    »Was ist das?«, fragt er.
    »Es ist noch nicht ganz fertig«, sage ich.
    »Verstehe.« Er schweigt eine Weile. »Ja, das sieht doch ganz gut aus.«
    »Es ist ein Anfang«, sage ich.
    »Ja, ja … gefällt mir.«
    »Sie können etwas damit anfangen?«
    »Ja, doch, das bringt mich weiter. Sie beginnen tatsächlich zu begreifen, dass wir zusammenarbeiten sollten.«
    »Was Mara betrifft …«
    »Mara?«
    »Ja … Sie wissen doch, dass sie verschwunden ist?«
    »Nein. Woher denn?

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