Schattentraeumer - Roman
was Elpida dazu veranlasste, ihm diese Freude zu bereiten – schließlich kannte sie die Wahrheit nicht
–, noch was die Steine zu bedeuten hatten. Aber jedes Mal, wenn er einen neuen fand, wusste er, dass ihm diese Steine jede
Enttäuschung wert waren, die er erleben musste. Zum Teufel, dieser hier war sogar die nervtötende Stunde wert, die er gerade
bei seiner Mutter hatte verbringen müssen. Er hatte ihr eigentlich nur zwei gehäutete Hasen vorbeibringen wollen, als ihn
die alte Televantos in Beschlag genommen hatte. Sie war auf Informationen über Marias plötzlichen Umzug in die Hauptstadt
aus sowie über Praxis scheinbar zeitlich unbegrenzte Rückkehr in ihr Elternhaus. Als die gewünschten Antworten auf ihre bohrenden
Fragen ausblieben, tröstete sie sich mit einem atemlosen,nicht enden wollenden Monolog, der keinerlei Verschnaufpause bot und schon gar keine Gelegenheit zu verschwinden.
Mit einer für sie äußerst ungewöhnlichen Begeisterung für Politik rasselte sie Radioberichte über den Angriff der Nationalgarde
auf Kokkina herunter, berichtete von dem jüngsten Versuch, den »ungläubigen türkischen Hunden« den Keryneia-Pass zu entreißen,
und davon, wie Makarios einer Amnestie zugestimmt und sogar angeboten hatte, die »sogenannten Flüchtlinge« um des Friedens
willen auf der Insel anzusiedeln.
»Dieser Mann ist ein Heiliger«, schnatterte die Alte und bekreuzigte sich hastig. Loukis nutzte den Moment der Ehrfurcht,
um aufzustehen. Doch er war zu langsam.
»O Loukis, das wird dir gefallen«, gackerte sie schon weiter und stimmte den nächsten Monolog an, diesmal über ihren bedauerlichen
Nachbarn Christos, der eine Zecke aus seinem Hodensack entfernt hatte, woraufhin das gute Stück auf die Größe einer Orange
angeschwollen war – »seine Hoden, nicht die Zecke.« Weiter wusste sie über das Glück von Baumeister Kostas zu berichten –
»das Schlitzohr, das mir mal eine Riesensumme für das Verputzen einer Wand abgeknöpft hat« –, der unlängst einen lukrativen
Vertrag mit dem Militär geschlossen hatte: »Du kannst einen Hund waschen, du kannst einen Hund baden, er stinkt immer noch
wie ein Hund.« Auch das jüngste Missgeschick des Metzgers vergaß sie nicht, er hatte offenbar einen weiteren Finger eingebüßt.
»Er braucht eine Brille«, erklärte Frau Televantos. »Seine Frau hat ihn geradezu angefleht, sich endlich eine zu kaufen, aber
hört er auf sie? Nein, natürlich nicht. Dieser störrische alte Esel. Ich sage euch, dass gesamte Dorf wird sich erst durch
seine verbliebenen sechs Finger durchbeißen müssen, bevor er Vernunft annimmt.
»Er sollte mehr Obst und Gemüse essen«, riet Dhespina, was die alte Dame köstlich amüsierte.
»Der Metzger – so sieht er aus!«
Als die beiden Nachbarinnen zum Thema Heilkräuter übergingenund den doppelten Nutzen von Brennnesselsud erörterten – zum einen als Haarwuchsmittel für Frau Televantos, zum anderen zur
Behandlung der vergrößerten Prostata ihres Mannes –, ergriff Loukis die Flucht. Noch mehr Details aus dem Leben der Dorfbewohner
verkraftete er nicht.
Loukis schloss seine Finger um den Kieselstein und betrat sein Haus. Kaum eine halbe Stunde verging, als er glaubte, eine
Erscheinung zu haben. Sie traf in einem Auto ein und stieg auf zwei Krücken gestützt aus.
»Großer Gott«, rief Loukis und stürzte auf den Besucher zu. »Antoniou, ich dachte, du wärst tot!«
»Das war ich auch … irgendwie.« Er befreite sich aus Loukis’ stürmischer Umarmung und schüttelte dann ungläubig den Kopf.
»Heilige Mutter Gottes, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, ich würd’s nicht glauben: Du bist noch größer, als
ich dich in Erinnerung hatte!«
»Dann warte mal ab, bis du meine Brüder kennengelernt hast«, sagte Loukis lachend.
»Na los, zeig mir dein Haus. Mein eines Bein bringt mich um.«
Loukis bückte sich, um Antonious Krücken aufzuheben, und führte den ehemaligen EOKA-Mann in sein Haus. Bei Kaffee und hausgemachtem
baklava
seiner Mutter lauschte er der Geschichte von Antonious Rettung.
»Nachdem Stelios’ Bombe hochgegangen war, wurde ich gefunden, verhaftet und in ein Militärkrankenhaus gebracht«, begann er.
»Als ich dort zu Bewusstsein kam, war zwar mein Bein weg, aber dafür hatte ich meine Freiheit zurück.«
Loukis musste an seinen eigenen traumartigen Aufenthalt in Havvas Haus denken. Bis heute konnte er den Geschmack der Verzweiflung
in
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