Schattentraeumer - Roman
versagt.«
Mehmet blickte dem Geistlichen in die geröteten Augen. Es gab nichts, was er ihm sagen konnte. Der Mann hatte seine eigene
Schlacht zu schlagen, so wie alle anderen auch.
Obwohl Gönyeli bis auf den letzten Stein türkisch war, schien der Ort für die Griechen uninteressant und blieb daher von Angriffen
verschont. Die Männer blieben indes wachsam, und aus den Schützengräben, die um das Dorf gezogen worden waren, sah man Gewehrläufe
ragen. Jeder, der als diensttauglich galt, musste auf Streife gehen, wofür ihm das Festland zwei Pfund im Monat zahlte; die
Befehle kamen von ehemaligen Polizisten oder Mitgliedern der inzwischen nicht mehr bestehenden Armee Zyperns. Mehmet erinnerte
sich an einen Vorfall, der sich kurz nach ihrer Ankunft in Gönyeli ereignet hatte: Ein griechischer Zyprer war durch das Dorf
gefahren – entweder nicht ahnend, in welches Gebiet er eingedrungen war, oder aber zu betrunken, um sich darum zu scheren.
Er wurde aus seinem Auto gezerrt und zu Tode geprügelt. Ein paar Dorfbewohner zeigten sich erschüttert über den Mord, die
Mehrheit hingegen machte sich lediglich Sorgen über mögliche Vergeltungsschläge. Als nach einem Monat noch immer kein bewaffneter
Mob über den Ort hergefallen war, legte sich die Panik allmählich, und der Tote geriet in Vergessenheit – zumindest im Dorf.
Vor nicht allzu langer Zeit hätte Mehmet gefordert, dassdie Täter vor Gericht gebracht würden, heute war er einfach nur dankbar, dass er das Verbrechen nicht hatte mitansehen müssen.
Als er neben Pembe in ihrem provisorischen Bett lag, betrauerte er die Rechtschaffenheit, die ihn einst zu einem besseren
Menschen gemacht hatte.
»Wusstest du, dass die Jungs Zwillinge waren?«
Mehmet wandte sich seiner Frau zu. »Nein, ich dachte, sie wären nur Brüder.«
»Sie waren Zwillinge, und sie waren unzertrennlich, hat mir ihre Mutter erzählt.« Pembe hatte den Abend mit Sevkets Frau verbracht.
»Ali, der Junge, der überlebt hat, war der Jüngere von den beiden«, fuhr Pembe flüsternd fort, um die Kinder ihres Neffen
nicht zu wecken, die auf der anderen Seite des Vorhangs schliefen, mit dem der Raum unterteilt worden war. »Ihre Mutter sagt,
dass er seit dem Mord an seinem Bruder nichts mehr gegessen hat und alles wieder ausspuckt, was sie in ihn hineinzwingen.
Er trinkt nur Wasser, aber er bekommt den Geschmack einfach nicht los. Seine Mutter sagt, dass er daneben stand, als seinem
Bruder eine Kugel in den Kopf geschossen wurde, und dass er von seinem Hirn schlucken musste.«
»Das arme Kind!«
Im Dunkeln liefen Mehmet Tränen über die Schläfen, und er fragte sich, wie der junge Mann je die Kraft finden sollte, weiterzumachen.
Am nächsten Morgen, noch vor dem ersten Hahnenschrei, erhielt Mehmet die Antwort auf seine Frage, als er die verzweifelten
Schreie der Mutter des Jungen hörte.
Während der Rest des Dorfes schlief, hatte sich Ali, Sohn von Sevket und Zwillingsbruder von Yusuf, das Leben genommen. Der
Junge hatte sich den Geschmack seines toten Bruders mit Batteriesäure aus dem Hals geätzt.
Es war etwa ein Jahr her, da hatte Dhespina ein scharfes Messer zur Hand genommen und die Enden von annähernd einhundert geschälten
Walnüssen aufgeschnitten. Anschließend hatte siedie Nüsse sieben Tage lang eingeweicht, wobei sie täglich das Wasser wechselte, und am achten Tag gab sie eine Handvoll Kalk
hinzu. Sie wusch die Walnüsse ab und gab sie in einen großen Topf mit Wasser, das sie zum Kochen brachte. Nach zehn Minuten
goss sie das Wasser wieder ab und ließ die Nüsse mit frischem Wasser weitere zwanzig Minuten kochen. Dann nahm sie einen Spieß
und stach je zwei Löcher in jede Nuss, bevor sie sie ein weiteres Mal zwanzig Minuten lang kochte. Abermals goss sie das heiße
Wasser ab, ließ die Nüsse in kaltem Wasser abkühlen und gab den Saft von zwei Zitronen hinzu. Sie goss noch einmal das Wasser
ab und steckte zwischen die Enden jeder Nuss eine Mandel. Dann streute sie Zucker darüber und kochte alles auf kleiner Flamme,
bis der Sirup eindickte. Nachdem sie den Saft einer halben Zitrone darübergeträufelt hatte, ließ sie alles abkühlen und füllte
es in Einmachgläser ab, die sie im Schrank versteckte, um einen angemessenen Anlass abzuwarten. Es war ein aufwendiges und
strapaziöses Verfahren – nicht zuletzt für die Walnüsse –, daher wurde Dhespina das Gefühl nicht los, dass man an diesem Nachmittag
weder
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