Schattentraeumer - Roman
Altar.«
»So lange will sie warten?«, fragte Loukis, nur halb im Scherz.
»Ich denke, unsere Probleme werden sich schneller lösen, als du glaubst«, erwiderte Antoniou und ließ seine Bierflasche mit
einem Augenzwinkern gegen die von Loukis krachen.
Im Grunde war ihr Leben im Dorf gar nicht schlecht gewesen – die Angst war dort hauptsächlich das Produkt ihrer eigenen Verunsicherung
gewesen. Hier in Gönyeli hingegen glich ihr Dasein einem einzigen Alptraum.
Mehmet überließ seine beste und letzte Hose dem Jugendlichen, der zu seinen Füßen hin und her schaukelte. Er war kaum älter
als ein Kind, doch bereits jetzt ein gebrochener Mann. Seine dünnen Arme hatte er schützend um seinen Körper geschlungen,
sein Blick war leer.
»Hier, bitte, mein Sohn.« Mehmet reichte dem Jungen die Hose. Sie würde zu lang sein, doch sie war alles, was er noch hatte.
Um sie herum waren Männer damit beschäftigt, Mauern hochzuziehen und aus allem, was sie finden konnten, ein Dach zu errichten.
Seit die Griechen ihre Blockaden errichtet hatten, kamen nur noch weniger Güter bis zu ihnen durch – das Einzige, was nicht
abriss, war der Strom an Notleidenden: Manche schliefen in Autos, die niemand mehr brauchte, weil der Tank leer oder der Motor
verrostet war. Die Glücklicheren unter ihnen kamen bei Verwandten unter, die noch Platz in ihren Häusern hatten. Zuletzt hatte
eine Familie aus Erenköy Zuflucht gesucht, dem Ort, den die Griechen Kokkina nannten. Es waren vier Personen: Vater, Mutter,
Großvater und Sohn. Eine Woche zuvor waren sie noch zu fünft gewesen.
Sevket Osman und seine Familie waren nachts angekommen, müde, hungrig und traumatisiert. Da sich die Menschen in Gönyeli mit
Berichten von Radio Bayrak auf dem Laufendenhielten, wussten sie über die Gräuel Bescheid, die in Erenköy verübt wurden – doch die Belagerung spielte sich im Nordwesten
der Insel ab, über fünfzig Kilometer entfernt, daher waren die Dorfbewohner fassungslos, als die Flüchtlinge vor ihrer Haustür
standen.
Der Angriff der Griechen auf Erenköy war erbarmungslos.
Es war kein Geheimnis, dass die türkischen Zyprer Waffen und Kriegsfreiwillige über die Enklave vom Festland auf die Insel
schmuggelten, doch sie war auch ein lebenswichtiger Nachschubhafen für Nahrung und Medikamente. Trotzdem, oder gerade deshalb,
griff die griechische Nationalgarde den Hafen von Erenköy an. Da die UN-Truppen der Offensive nichts entgegensetzen konnten,
zogen sie sich zurück und überließen die Enklave sich selbst. Umzingelt von den Bergen, mit dem Rücken zum Meer, gab es kein
Entkommen und kein Erbarmen.
»Alles fing mit einem Kampf um die Landstraße an«, schilderte Sevket. »Dann handelten die Blauhelme einen Waffenstillstand
aus und holten ihre Truppen, um ihn zu überwachen. Doch es war bedeutungslos. Als die Griechen mit ihren Granatwerfern und
schwerer Artillerie angriffen, überließen uns die Ausländer unserem Schicksal. Tagelang herrschte finsterste Nacht: Häuser
wurden in die Luft gesprengt, unsere Jungs knickten um wie Streichhölzer und fielen uns tot zu Füßen, und diese Bastarde kamen
immer näher, obwohl wir ihnen nichts entgegenzusetzen hatten. Sie drängten uns rückwärts, bis wir knietief im Meer standen
– wo schon ihre Kriegsflotte wartete, um uns wieder an Land zu pusten. Wir waren ihnen völlig unterlegen, und sie haben uns
einfach niedergemetzelt. Yusuf, mein Sohn, wurde getötet, als er versuchte, uns zu retten. Und all die anderen Kinder, ich
habe sie gesehen, in Stücke, in Fetzen gerissen, unschuldige kleine Kinder, die nie wieder laufen, nie wieder einen Ball werfen
werden. Kinder, sage ich euch! Was haben sie ihnen getan? Was für Verbrechen könnten sie schon begangen haben?«
Als der Mann nach diesen Worten in Tränen ausbrach, hieltMehmet es nicht länger aus und verließ den Holzverschlag, den die Familie ab sofort ihr Zuhause nennen sollte. Draußen fand
er den Imam des Dorfes, er hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte.
»Was kann ich nur tun?«, rief der Mann flehend, als er Mehmets Hand auf seiner Schulter spürte. »Was kann ich ihnen geben?
Ich habe nur meinen Glauben, doch was kann der gegen Männer ausrichten, die entschlossen sind zu morden?«
»Ihr Glaube ist das Beste, was Sie ihnen geben können«, sagte Mehmet sanft.
»Und wenn ich merke, wie er von mir abzufallen droht? Möge Allah mir verzeihen, aber ich habe
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