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Schattenwanderer

Schattenwanderer

Titel: Schattenwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexey Pehov
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mir der König gestern Abend gegeben hatte. Der Alte beugte sich tief über ihn, um ihn sich genau anzusehen, öffnete mir die Tür und trat zur Seite.
    »Hätt’st du das nicht gleich sagen können? Hätt’st mir den Ring zeigen soll’n, aber nicht so ‘n Lärm machen. Komm rein, wenn du kein Zuhause hast!«
    Da es keinen Sinn gehabt hätte, mit ihm darüber zu streiten, dass er mir gar keine Gelegenheit gegeben hatte, ihm den Ring eher zu zeigen, betrat ich einfach die Bibliothek. Rasch schloss der Alte hinter mir die Tür.
    »Die haben’s auf mich abgesehen! Aber ich pass auf«, kicherte er und bleckte fröhlich die gelben Stummel seiner Zähne.
    »Wer ist die ?« So ernsthaft ging ich auf den Bibliothekswächter ein.
    Der Alte machte mir mit seinem krummen Finger ein Zeichen, schaute sich um, als suche er denjenigen, der ihm sein schreckliches Geheimnis ablauschen wollte, um mir dann ins Ohr zu flüstern: »Die Oger!«
    Ja klar! Der arme Alte musste zwischen all den Büchern den Verstand verloren haben!
    Er nickte mehrmals, als wollte er mich von den Ogern überzeugen, die in der Bibliothek lauerten, und schlurfte einen schmalen Gang ins Innere der Bibliothek hinunter. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
    »Was willst du? Klug werden?«, brummte der Alte.
    »Hmm.«
    »Bist du ‘n Zauberlehrling?«
    »Ja.«
    »Hört, hört«, schmatzte der Alte, der mir nicht ein Wort glaubte.
    Eine gute Minute liefen wir schweigend durch den Gang, in den durch schmale, vergitterte Fenster spärliches Licht fiel. Im Sonnenschein tanzten Staubkörner, die wie Schneeflocken funkelten.
    »Dann sag mal, Lehrling, was die Wespe unter deinem Umhang verloren hat?«, fragte der Alte plötzlich mit verschlagener Stimme, nachdem er stehen geblieben war und mir unverwandt in die Augen sah.
    »Oho! Du bist ja gar keine Blindschleiche«, staunte ich. »Woher weißt du das von der Wespe ?«
    »Woher! Woher! Hat mir ‘n Doralisser geflüstert!«, knurrte der Alte und setzte sich wieder in Bewegung. »Dreißig Jahre war ich Kundschafter bei den Wilden Herzen. Da werd ich ja wohl ‘ne Armbrust erkennen! Egal, wie du sie unterm Umhang versteckst!«
    »Bei den Wilden Herzen? Als Kundschafter? Dreißig Jahre?«
    »Jo.«
    Hut ab! Aber was tat eine wandelnde Legende wie er dann hier als Bibliothekswächter? Die Wilden Herzen brachten bis zum Ende ihrer Dienstzeit ein hübsches Sümmchen zusammen und konnten danach im eigenen Häuschen leben, ohne Sorgen und Not, die mussten sich nicht mehr Tag und Nacht plagen – oder den Staub alter Bücher einatmen.
    »Bindest du mir auch keinen Bären auf?« Irgendwie wollte ich nicht glauben, dass vor mir ein Wildes Herz stand, wenn auch ein ehemaliges.
    Der Alte schnaubte und schob den Ärmel seines hellgrünen, mottenzerfressenen und verdreckten Hemdes hoch, um mir die Tätowierung am Unterarm zu zeigen. Ein kleines purpurrotes Herz, wie sie Verliebte an Wände malen, nur dass dieses gezahnt war. Ein Wildes Herz. Darunter prangte die Bezeichnung seiner Einheit: Heckenrose. O nein, der Alte hatte mich nicht angelogen. Einen solchen Idioten, der sich zum Spaß die Tätowierung der Wilden Herzen verpasst, obendrein mit der Angabe dieser Einheit, würde man nirgendwo auftreiben. Die Wilden Herzen würden ihm nämlich ungeachtet seines Alters den Arm mit der Tätowierung schlicht und ergreifend abhacken.
    Ich stieß einen Pfiff aus. »Oho! Wie viele Ausfälle hast du gemacht?«, fragte ich so höflich wie möglich. Der Alte hatte ein wenig Respekt verdient.
    »Dreiundvierzig«, murmelte er bescheiden. »Bis zu den Nadeln des Frosts bin ich mit meinen Jungs.«
    Beinahe wäre ich wie vom Donner gerührt stehen geblieben. Dreiundvierzig Ausfälle ins Gebiet hinter dem Einsamen Riesen!
    »Kam’s zu Kämpfen?«
    »Jo«, taute der Alte ein wenig auf. »Wir haben uns wacker geschlagen.«
    Durch den schmalen, halbdunklen Gang gelangten wir in einen riesigen, einen schier endlos wirkenden Lesesaal. Die meisten Tische und Stühle für Besucher waren leer, nur an einem von ihnen saß ein junger Magier im Gewand eines Lehrlings vom Orden. Er blätterte ein dickes, staubiges Buch durch und schnäuzte in einem fort in sein Taschentuch. Uns beachtete er überhaupt nicht.
    Durch den ganzen Raum zogen sich mehrere schmale Galerien, damit die Besucher auch ein Buch direkt unter der Decke erreichten. Um all das zu lesen, was im Laufe mehrerer Jahrhunderte in der Bibliothek zusammengetragen worden war, reichte

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