Schattenwandler 02. Gideon
… und ich glaube, auch für Noah.
Du hast dich sogar großer Verachtung und Schande ausgesetzt, als du mich beschützen wolltest. Und das allein ist schon Grund genug, dass ich eine hohe Meinung von dir habe. Wenn ich dann noch daran denke, wie du denen, die ich liebe, so selbstlos geholfen hast, als sie schwer verwundet waren, und wie du sie vor dem Tod gerettet hast, kommst du mir vor wie mein Ritter in strahlender Rüstun g – schurkische Aufmachung hin oder her.“ Sie lächelte, und auf ihrer Wange zeigte sich ein Grübchen. „Aber das sollten wir Noah nicht erzählen, denn es würde ihn tief treffen, wenn er erkennen müsste, dass er als der einzige wahre Held in meinem Leben vom Sockel gestoßen worden ist.“
„Ich schwöre dir, von mir wird er nichts erfahren“, versprach Gideon mit leuchtenden Augen, in denen die Hoffnung funkelte. Er nahm jede Linie ihres Gesichts in sich auf. Dann fuhr er die Linien mit den Fingerspitzen nach. „Legna, ich habe schon so lange gelebt, und es gibt so viel, was du nicht von mir weißt. Eines Tages wirst du deine Meinung über mich womöglich ändern.“
„Bevor ich eine so vorschnelle Entscheidung treffe wie vor neun Jahren, werden wir darüber reden, das verspreche ich dir“, sagte sie.
Diese Aussicht tröstete ihn. Sie spürte, dass er sich etwas entspannte. Ihr war bewusst, dass jemand, der schon so lange lebte, sich schon oft geirrt haben musste, aber die Gräueltaten des Krieges lagen weit zurück. Gideon bestrafte sich offensichtlich viel härter, als jemand anderer es gekonnt hätte.
„Und jetzt“, fuhr sie fort, griff nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger mit den seinen, „wäre es schön, wenn wir ein bisschen im Garten spazieren gehen könnten. Danach würde ich gern eine Partie Schach spielen, wenn du Lust dazu hast.“
„Hmm.“ Gideon lächelte, während er ihr folgte. „Ich war schon immer neugierig, woher dein Hang zum Gärtnern kommt“, sagte er nachdenklich. „Ich werde die Sonnenterrasse in einen Baumgarten verwandeln.“
Legna spürte, wie ihr Herz bei dem Gedanken, dass sie eines Tages zusammenleben würden, einen Satz tat. Sie wusste natürlich, dass es unvermeidlich war und dass Gideon deswegen so redete, doch trotzdem zog sich ihr der Magen zusammen vor Angst.
„Ich höre deine Gedanken, meine Schöne“, flüsterte er ihr plötzlich ins Ohr, und sie blieb an der Schwelle zur hinteren Veranda stehen, um ihm in die Augen zu sehen. „In diesem Punkt kann ich dich nicht trösten. Eines nicht allzu fernen Tages wirst du mir gehören und in mein Haus ziehen. Ich weiß es. Und du weißt es. Fürchte dich vor mir, wenn es sein muss, aber fürchte dich nicht vor dem Unvermeidlichen. Du wirst mit mir zusammenleben, lange bevor du mich verstehst. Vielleicht sogar, bevor du mir vertraust.“
Legna wusste, dass er recht hatte, und diese Logik beruhigte ihre aufgewühlten Nerven. Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre trockenen Lippen.
„Es tut mir leid. Natürlich hast du recht.“ Schnell schützte sie den immer wiederkehrenden Gedanken, dass sie Noah allein zurückließ, dass sie das Haus ihrer Kindheit verließ. Für sie bedeutete es große Freude, doch für die anderen bedeutete es großen Schmerz. Und es tat ihr schon jetzt leid. Aber das war der natürliche Gang der Dinge.
„Auf deinem Spaziergang durch den Garten begleite ich dich gern“, erklärte Gideon, während er sie hinaus in die verwilderte Landschaft führte. „Aber fürs Schachspielen brauchst du kaum Geschick. Wir können ja nicht fair miteinander spielen, weil jeder beim anderen lesen kann, was er vorhat.“
„Aber genau darin liegt ja die Herausforderung, Gideon. Wer von uns beiden lernt, seine Gedanken abzuschirmen, wird gewinnen.“ Sie lächelte, aber Gideon spürte nicht, welche Ironie sie dabei empfand. „Ich finde, es ist eine wunderbare Herausforderung.“
„Wenn du es so ausdrückst, sehe ich mich geneigt, dem zuzustimmen.“
Gideon blieb unvermittelt stehen, und da sie Hand in Hand gingen, wurde sie zurückgezogen und prallte mit einem kleinen überraschten Laut gegen ihn. Verwirrt sah sie zu ihm auf, während er erneut ihr Gesicht in seine Hände nahm. Er senkte seine Lippen auf ihre und küsste sie mit unendlicher Zärtlichkeit, wobei er die Lust, die sonst sofort zwischen ihnen übersprang, entschlossen zurückhielt.
Er wollte, dass der einzige Teil seines Körpers, der in diesem Moment zu ihr sprach, sein dankbares Herz war, und das
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