Schattenwandler 05. Noah
darum kümmerte, dass er in den Bauch blutete. Er war unglaublich schnell, doch sie musste es versuchen. Sie sprang über perfekt gestutzte Büsche und gemähten Rasen.
Plötzlich spürte sie Hände, die sie wie grobe Klauen an den Schultern packten, und Beine, die sich um ihre Taille schlangen. Eine Sekunde später wurde sie hochgerissen, doch sie unterdrückte einen Angstschrei, weil sie der Kreatur die Genugtuung nicht gönnen wollte. Sie spürte, wie Noah das Herz bis zum Halse schlug. Fasziniert beobachtete sie, wie der Rasen sich entfernte und wie die dunklen englischen Wälder mit ihren, der Jahreszeit entsprechend, kahlen Bäumen auftauchten.
Bäume!
Kestra riss gerade noch rechtzeitig die Arme hoch, um ihr Gesicht vor den obersten Zweigen einer alten Eichen zu schützen. Der Vampir flog so schnell, dass ihr dünnes Kleid sofort in Fetzen ging, und ihre Arme und Beine fühlten sich an, als würde ihr die Haut abgezogen.
Noah!
Halte durch, Baby, Hilfe ist unterwegs!
Sie musste die Oberhand gewinnen, doch sie könnte auch sterben, wenn sie aus dieser Höhe hinabstürzte. Doch lieber das, als noch höher zu fliegen. Oder sich das Blut aus dem Körper saugen zu lassen.
Das werde ich niemals zulassen!
Noahs überzeugter Ausruf gab ihr Vertrauen. Wieder kam diese Ruhe über sie, die seine arrogante Art ihr vermittelte. Es war eine Überzeugung, die nur jemand mit besonders großen Fähigkeiten hatte – dass er nicht besiegt werden konnte, egal, wer der Feind war. Das war sein Geschenk an sie, und das beflügelte sie.
Plötzlich schoss der Vampir abwärts, und als sie sich die Haut an einer Rinde aufschürfte und einen Schrei unterdrückte, handelte Kestra.
Sie hatte ihre Waffe noch immer in der Hand. Und während sie sich mit einer Drehung der Hüften aus seiner festen Umklammerung befreite, riss sie einen Arm los und stach ihn mitten ins Gesicht. Sie hatte ein Auge treffen wollen, doch sie verfehlte ihr Ziel. Unglücklicherweise blieb der Brieföffner stecken, als sie wie ein Stein vom Himmel fiel.
Bis ein Ast, nicht viel dicker als eine ungleichmäßige Ballettstange, an ihrem Körper entlangstreifte und sie instinktiv danach griff. Sie wippte auf und ab, Holz krachte und splitterte, doch der Ast hielt. Unglücklicherweise spielten ihre Arme nicht mit. Der Schmerz von den Zweigen, die sie getroffen hatten, fuhr ihr bis tief in die Schulter, und sie konnte sich nicht mehr länger festhalten. Sie stürzte hinab in den Wald, zog sich dabei noch weitere Abschürfungen zu und landete schließlich mit einem Knacken im Rücken und einem Stöhnen auf dem laubbedeckten Waldboden.
Sie bemerkte ein Donnern und Krachen zu ihrer Rechten. Und dann auch zu ihrer Linken.
Es war wie bei Macbeth . Es kam ihr so vor, als wäre der Wald zum Leben erwacht. Der Lärm war ohrenbetäubend, Zweige und Sterne begannen sich auf einmal zu vervielfältigen in einem makabren kleinen Tanz. Dann wurden der Nachthimmel und die Bäume vom plötzlichen Erscheinen eines schalkhaften Gesichts und einer riesigen Wolke rabenschwarzen Haars verdeckt. Eine winzig kleine Frau hatte sich über sie gebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, und lächelte sie an.
»Hallo. Du siehst aus, als könntest du Hilfe gebrauchen.«
»Das hast du bemerkt?«, ächzte Kestra.
»Mein Name ist Isabella. Noah hat mich geschickt. Bei mir bist du sicher.«
Diese Frau ist eine wunderbare und vertrauenswürdige Freundin.
In dem Satz schwang so viel Bewunderung mit, dass Kestra einen kleinen Stich verspürte.
Ja. Danke. Ich kann den wunderbaren Teil ohne deine Beschreibung erkennen.
Ich habe von ihrem Herzen gesprochen.
Anscheinend war sie kurz ein bisschen eifersüchtig gewesen. Na und? Er lebte schon seit ewigen Zeiten, und sie wollte gar nicht daran denken, wie viele Frauen das bedeutete.
»Du bist ziemlich schwer verletzt. Bleib ganz ruhig liegen.«
»Der Vampir?«, flüsterte sie und war überrascht, dass sie sprechen konnte.
»Oh, ich, ähmmm …« Die braunhaarige Frau blickte verlegen drein. »Ich würde mir um ihn keine Sorgen machen.« Plötzlich taumelte Isabella und fiel auf die Knie, wobei ihr Haar über Kestras Gesicht strich. »Wow. Das ist aber heftig«, murmelte sie.
»Hä?«, war alles, was Kestra sagen konnte, doch sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Isabella meinte. Sie kannte diesen Blick. Den Blick, den Objektspringer und Klippentaucher und Höhlengänger hatten, wenn sie sich ein neues hohes Ziel gesetzt
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