Schattenwandler 05. Noah
das Knistern des Feuers und ihr lauter werdender Atem. Nach einem schmerzvollen Moment wandte er den Blick von ihr ab. Er hatte geahnt, dass sie erwachen würde, und nur Sekunden zuvor seinen Platz neben ihrem Bett leise verlassen. Doch bis dahin hatte er die ganze Zeit in dem Sessel verbracht.
Er hatte dort gesessen und jeden Atemzug von ihr beobachtet, während er mit aller Macht versucht hatte, die Gefühle, die in seinem Herzen tobten, und die Gedanken und Erinnerungen, die ihn quälten, in Einklang zu bringen. Noah hatte niemandem etwas davon erzählt, wie er die erste Begegnung mit Kestra empfunden hatte. Außer ihm selbst und seiner Prägungspartnerin war nur Corrine Zeugin gewesen.
Wie war Kestra nur in diese Situation geraten? Wer war sie? Warum sollte sich eine Frau, die anscheinend keine besonderen Kräfte besaß, jemals in so große Gefahr begeben? Sie konnte kämpfen, sie wusste, wie man mit einer Waffe umging, und sie war für ein sterbliches Wesen bemerkenswert furchtlos, aber …
Was hatte sie getan, dass sie dafür sterben sollte? Hatte sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie nah sie dem Tod gewesen war? Dass der Tod sie geholt hätte, wenn er nicht gewesen wäre? Er hatte es gesehen, das Bild hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt und jagte ihm noch immer Angst ein, obwohl es vorbei und ihr Leben nicht mehr in Gefahr war. Sie war in Sicherheit. Bei ihm. Hier.
Endlich.
Er wusste, dass er eigentlich etwas zu ihr sagen sollte, doch er fand nicht die passenden Worte für diese außergewöhnliche Situation. Wenn das, wo er da zu Beginn hineingeraten war, ein ganz alltägliches Ereignis war in ihrem Leben, dann war es nicht verwunderlich, dass sie ihn in ihren Träumen mit aller Macht zurückgewiesen hatte. Wie konnte eine Frau, die ein so gefährliches Leben führte, jemals jemandem vertrauen? Diese Ironie brachte ihn innerlich zum Lachen. Er war selbstherrlich und arrogant gewesen, hatte stets seine eigenen Interessen verfolgt, und das wurde ihm anscheinend auf verschiedene Weise heimgezahlt. Er hatte Zeit damit verschwendet, Spielchen zu spielen, und er hatte um die Macht der Träume gekämpft, die sie teilten. Jetzt war sie hier, lag in seinem Bett und blickte ihn misstrauisch an, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er zahlreiche Gelegenheiten ausgelassen hatte, das Ganze viel einfacher zu gestalten. Wenn er nur schon vor ein paar Monaten die Bedeutung der Träume erkannt hätte, würde sie ihn jetzt vielleicht nicht so feindselig anschauen.
Jetzt, wo sie hier war, was dachte sie da wirklich über ihn?
Er konnte sich die Antwort gut vorstellen.
Der schreckliche Schmerz, den Isabellas Abscheu ihm verursacht hatte, war mehr als karmische Gerechtigkeit und lud ihm eine schwere Schuld auf, und der König glaubte, dass er es nicht ertragen könnte, wenn diese Frau, die angeblich das wertvollste Geschenk war, das er je erhalten hatte, ihn mit weiteren Anschuldigungen überschüttete.
Allerdings war es es nicht gewöhnt, Furcht oder sogar Feigheit zu zeigen, also sah er sich gezwungen, weiterzumachen, wenn auch nur, um sich selbst zu beweisen, dass er keine Angst vor seinem Schicksal hatte, was immer es auch bringen mochte. Er bewegte sich auf das Bett zu, bis er hinter der Lehne des Sessels stand, in dem er die letzten zwölf Stunden gesessen und versucht hatte, ihr möglichst nah zu sein, und wo er ihren Körper mit seiner Energie gespeist hatte, so wie sie seine hungrige Seele mit ihrer bloßen Anwesenheit und ihrer Nähe genährt hatte.
Als er um den Sessel herumging, trat er in den Lichtkreis der Kerze, die auf dem Nachttisch stand. Als das Licht zum ersten Mal auf seine groß gewachsene Gestalt und seine Gesichtszüge fiel, stieß Kestra einen überraschten Laut aus. Noahs Blick traf den ihren, und die riesengroßen eisblauen Augen zeigten Erschütterung und Beklommenheit. Ihr Atem ging doppelt so schnell, und er konnte spüren, wie sich die Energie ihres Körpers bündelte und wie ihre Muskeln sich anspannten, damit sie sich vor ihm in Sicherheit bringen konnte, falls es notwendig sein würde. Ansonsten saß sie vollkommen reglos und ohne zu Zwinkern da und blickte ihn an.
Langsam begab Noah sich wieder an seinen Platz. Er lehnte sich zurück und versuchte trotz der Gefühlswallungen einen entspannten Eindruck zu machen.
Er hatte nicht erwartet, dass sie so atemberaubend schön war. Er stellte fest, dass er sich kaum Gedanken darüber gemacht hatte, außer wenn er ihr Haar
Weitere Kostenlose Bücher