Schattenwandler 05. Noah
Körper und ihr helles Haar schimmerten im Mondlicht, die Seide und der Chiffon ihres Kleides flatterten wie eine Fahne bunt im Wind. Sie legte Meile um Meile im Galopp zurück, und das Donnern der Hufe dröhnte in ihrem Körper. Sie gehörte nicht mehr zur Welt der Dämonen, deren Konventionen und Erwartungen. Sie war frei. Sie konnte durchatmen. Es würde keine Zukunft geben, die eine erstickende Gefangenschaft bei einem Mann bedeutet hätte, den jeder verachtete.
Und plötzlich, als hätten die Gedanken ihn beschworen, materialisierte sich der Vollstrecker aus dem Abendnebel und nahm auf dem Weg des galoppierenden Pferdes feste Gestalt an. Das Tier kam mühsam zum Stehen und wollte vor Angst zurückweichen, doch bevor dies geschah, flog Sarah über seinen Kopf hinweg nach vorn, die Zügel glitten ihr aus den Händen, und sie wurde durch die Luft geschleudert. Sie wäre beinahe gegen den Vollstrecker geknallt, etwas, das sie zumindest kurzzeitig befriedigt hätte, doch der Feigling entmaterialisierte sich wieder. Ein dichtes Gespinst aus Nebel und Feuchtigkeit umfing sie mit einem sanften und angenehmen Gefühl, als sie schließlich zu Boden stürzte.
Im Bruchteil einer Sekunde fand sie sich in den Armen des Vollstreckers wieder, und ihr Herz pochte wild. Ein Teil der Gefühle rührte vom Sturz her, der andere Teil von der Erregung, die sie durchfuhr, als die kühlen Augen sie anblickten. Das Verlangen nach ihr lag darin bloß. Es war ein unglaubliches Gefühl, zu wissen, dass sie es war, die der gefürchtetste und mächtigste Mann ihrer Welt jetzt wollte. Es spielte keine Rolle, dass sie eine Prinzessin war. Sie war so geboren worden, hatte nichts dafür getan. Doch er war dazu geboren worden, der Vollstrecker zu sein, und hatte über die Jahrhunderte bewiesen, dass er dieser Aufgabe würdig war.
Strampelnd versuchte sie sich aus seiner Umarmung zu befreien, und Ariel ließ sie los, setzte sie mit den Füßen auf den Boden und ließ zu, dass sie einigen Abstand zwischen sie brachte, auch wenn es im Grunde nur ein paar Schritte waren.
»Komm, komm«, lockte er sie sanft, »hierher. Du musst deinen Teil der Abmachung erfüllen.«
»Es gibt keine Abmachung!«, rief sie trotzig. »Ich bin wie eine Stute zur Zucht bestimmt worden, und niemand hat mich gefragt!«
»Ich bin nicht hier wegen einer Stute, obwohl das Züchten zu den Dingen gehört, die ich gern tun würde. Ich will dich, Sarah, und alles, was du zu bieten hast. Ich weiß seit Jahrzehnten, dass du zu mir gehörst, doch ich habe dich in Ruhe heranwachsen lassen, damit du das werden konntest, was du wolltest. Ich habe dich gesehen, wie du erblüht und eine Persönlichkeit von solcher Strahlkraft und Freundlichkeit geworden bist, dass es mich ganz befangen macht, wenn ich daran denke, dass du auf mich herabscheinst.«
»Nein! Ich habe dich nie gesehen!«
»Und ich habe dich nie berührt«, sagte er, und seine Stimme klang wie weiche Wolken am Sommerhimmel. »Bis heute. Dein Vater hat dir damit gedroht, dich einem anderen zuzuführen, das konnte ich nicht zulassen. Obwohl ich sagen muss, dass es dein feuriges Temperament zum Vorschein gebracht hat, das ich so anziehend finde.«
Sarahs Hand wanderte in einer typisch weiblichen Geste der Abwehr zum Hals und verriet ihre Furcht und ihre Verletzlichkeit. Sie erkannte die Wahrheit in allem, was er sagte. Ariel hatte daneben gestanden und abgewartet, hatte ihr Raum gegeben, den ihr nicht einmal ihr Vater hatte geben wollen. Wie musste es für ihn gewesen sein, sie nicht anzurühren, in dem Wissen, dass sie dazu bestimmt war, in seinen Armen zu liegen? Sie hatte in seliger Unwissenheit gelebt, doch Ariel hatte es seit Langem gewusst – Jahrzehnte, wie er sagte – und gewartet. So viele Tage, so viele Jahre im persönlichen Dienst des Königs, jeden Tag, dort in den Ratsräumen, Räume, in denen sie ein und aus gegangen war. Festlichkeiten und Feiern.
Samhain und Beltane.
Sarahs Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie plötzlich begriff, was für Qualen er bei jedem Heiligen Mond gelitten haben musste, gezwungen, seine Pflicht zu erfüllen, seinen Verstand nicht zu verlieren, die Versuchung nur einen Steinwurf entfernt, Befriedigung nur eine Berührung entfernt.
Sein Opfer berührte sie, wie sonst nichts auf der Welt es vermocht hätte.
Als Noah sich körperlich und auch geistig wieder erholt hatte, wusste er, dass Kestra sein Heim längst verlassen hatte. Noch immer konnte er die kraftvolle
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