Schattenwandler 05. Noah
die ein bisschen …
»Hey«, sagte er plötzlich und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er beugte sich über sie und blickte ihr in die Augen. »Halt das Karussell an«, befahl er ihr und tippte ihr sanft an die Schläfe. »Ich weiß, dass du furchtbare Kopfschmerzen haben musst. Du solltest etwas trinken, die Augen zumachen und nicht an tausend Dinge denken, die du im Moment wahrscheinlich sowieso nicht ändern kannst.«
Wieder hatte er recht. Es ärgerte sie, doch seine Klugheit hatte ebenfalls ihren Reiz. Sie tat, was er sagte, entspannen und nicht nachdenken, selbst als er ihren Fuß nahm und die völlig verkrampften Muskeln zu massieren begann.
»Ruh dich aus«, ermunterte er sie mit tiefer, beruhigender Stimme. »Dein Körper muss sich erholen. Morgen ist auch noch ein Tag. Du wirst noch genug Zeit haben, mit mir zu schimpfen, zänkisch zu sein und mich zu hassen. Heute ruhst du dich einfach aus.«
»Ich hasse dich nicht«, erwiderte sie leise und spielte lustlos mit der Flasche.
»Nun, das ist gut zu wissen«, sagte er. Er versuchte, neutral zu klingen, doch sie wusste, dass er zufrieden und belustigt war.
Sie war ebenfalls zufrieden. Seine Hände bewirkten Wunder an ihren Füßen. Innerhalb von Minuten entspannten sich ihre Muskeln, und seine Fingerspitzen und Handflächen hinterließen ein angenehmes Kribbeln. Er glitt mit seinen kräftigen Händen ihre Waden hinauf und tastete nach weiteren verkrampften Stellen. Dann nahm er ihre eine Hand und massierte mit seinem Daumen die Handinnenfläche. Es war eine sanfte kreisförmige Bewegung, und das Kribbeln begann von Neuem. Wärme breitete sich in ihren Händen aus, als seine Finger über die ihren glitten, während sich die beiden Hände ineinander verwoben und er seine freie Hand nahm, um die Massage fortzusetzen. Kes beobachtete ihn, sah, wie er aufmerksam ihre Hand betrachtete. Möglich, dass er herauszufinden versuchte, wie er ihre Verkrampfungen am besten lösen könnte, doch sie glaubte das nicht. Wenn sie raten müsste, dann würde sie sagen, er speicherte sie in seinem Gedächtnis.
Noah tastete jeden einzelnen Finger und jede Fingerspitze ab, fasziniert von den Linien auf ihrer Haut. Sie hatte überall Schwielen, selbst zwischen den Knöcheln, auch wenn diese nicht so dick waren wie die anderen. Sie hatte Hände wie jemand, der hart arbeitete, und gleichzeitig waren sie so elegant wie bei jemandem, der geübt war darin, die Hände auf eine bestimme Art zu halten. In Stellung, selbstsicher. Er drehte ihre Hand um und betrachtete das Handgelenk. Er konnte ihren Pulsschlag sehen, doch etwas war ungewöhnlich. Er hätte es fast übersehen, doch als er einen Moment länger hinsah, erkannte er die kleine Tätowierung einer Tänzerin in Pink, und sie war kaum zu unterscheiden von ihrer Haut. Doch es war nicht zu übersehen, dass sie sie mit großem Stolz trug.
»Cyd Charisse«, sagte sie ganz unbewusst, und ihr schläfriger Blick traf seine neugierigen Augen. »Sie war Tänzerin zur Zeit der MGM-Musicals. Man hatte ihr gesagt, sie wäre zu groß … aber das stimmt nicht. Sie war die schönste Tänzerin, die ich je gesehen habe. Es ist ihre Silhouette.«
»Ein Vorbild für ein großes Mädchen, das tanzen will«, sagte er und blickte plötzlich verstehend in ihr schönes Gesicht.
»Ich wollte alles. Tanzen, Turnen, ich habe alles probiert. Bis auf Basketball. Alle wollen, dass man Basketball spielt, wenn man groß ist.« Verzweifelt rollte sie die Augen. »Ich wollte Ballett. Gymnastik. Klettern. Kickboxen. Yoga.«
»Und ich wette, du hast das alles gemacht.«
»Klar«, sagte sie kämpferisch. »Ich lerne immer etwas Neues. Letztes Jahr war ich beim Bungee-Jumping. Und dieses Jahr …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Ich bin sicher, du findest etwas«, sagte er.
Sie wusste sofort, dass sich hinter dieser scheinbar harmlosen Bemerkung etwas verbarg. Doch sie war zu müde, um dem auf den Grund zu gehen, deshalb beließ sie es vorerst dabei.
»Ist das deine einzige Tätowierung«, frage er.
»Ja. Und man kann sie kaum erkennen. Andere Erkennungsmerkmale habe ich nicht.«
Noah reagierte nicht, doch er fand, dass es eine eigenwillige Bezeichnung war. Er speicherte es ab. Es war etwas Neues, das er über sie erfahren hatte. Doch er musste sie noch besser kennenlernen. Er wollte mehr. Sehnte sich nach mehr. Nach beidem, Körper und Seele.
»Du hast eine Narbe. Viele Narben sogar.« Sie hob die
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