Schattenwandler 05. Noah
sie ihrer Verpflichtungen, doch denen, die nichts zu tun hatten oder die Angst vor den eigenen Bedürfnissen hatte, stand es frei, zu bleiben.
Noah rieb sich die angespannte Schläfe. Er machte sich noch ganz verrückt mit all diesen Überlegungen und Bedenken. Es gab zu viel zu tun, und es war nicht genug Zeit dafür. Dazu gehörte auch, seine Gemahlin auf eine Weise zu lieben, wie sie es verdiente: aufrichtig, wahrhaftig und ohne Vorbehalt. Die Spannung in seinem Kopf explodierte in einem heftigen Schmerz, der ihm über Nacken und Schulter kroch.
»Ich kann gar nicht glauben, dass ich den ganzen Weg hierher geschlafen habe«, sagte Kestra schließlich, nachdem sie keine Lust mehr hatte, ihn durch die Schranktür hindurch anzustarren. »Wie ist das möglich? Vom Auto ins Flugzeug und vom Flugzeug ins Auto und die ganzen Treppenstufen hinauf? Ich schlafe sonst nie so. Ich muss eine langweilige Begleitung gewesen sein.«
»Du warst erschöpft und hast dich erholt«, sagte er, während er langsam seinen Schrank durchsah, bevor er sich für eine modernere Art von Hose und ein passendes schwarzes Polohemd entschied.
Sie musste das wohl so hinnehmen. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich noch nie so müde und kraftlos gefühlt hatte.
Kestra runzelte die Stirn, und sie rieb sich die Schläfe, als sie unvermittelt einen stechenden Schmerz spürte, der ihr bis in den Nacken fuhr. Es war ein kurzer heftiger Kopfschmerz, und sie verstand nicht, wo er hergekommen war. Sie war so entspannt, wie sie es nicht mehr gewesen war, seit man sie aus Sands Hotelsuite gerettet hatte. Noah zog sich hinter der Schranktür die Sachen an, also verdrängte sie den Schmerz und setzte ein mattes Lächeln auf, als er angezogen auftauchte. Er kam auf ihre Seite des Bettes, setzte sich wieder ganz dicht neben sie und blickte sie an. Weil sie sich aufgesetzt hatte, kamen sie einander sehr nah, und sie konnte sehen, dass die Fältchen in seinen Augenwinkeln nicht nur Lachfältchen waren. Seine Lippen waren ebenfalls von zwei Falten links und rechts umrahmt. Mit einer sanften Berührung versuchte sie diese zu glätten.
»Hey«, sagte sie leise, und ihr Herz schlug plötzlich ganz aufgeregt, ohne dass sie gewusst hätte, ob nun aus einem Hochgefühl heraus oder aus Furcht.
»Hallo«, erwiderte er, und sein Lächeln reichte bis zu dem Jadeton hinter dem rauchigen Schleier in seinen Augen.
»Werden wir jetzt besagtes ›Gespräch‹ führen?«
Es schien ihn zu verwirren, dass sie ihn daran erinnerte. Er berührte seine Schläfe und rieb die Stelle mit seinem kräftigen Daumen. Zumindest war sie nicht die Einzige, die das alles aus der Fassung brachte, dachte sie belustigt.
»Kes … bist du glücklich?«
Kestra hielt den Atem an, als die Frage sie traf. Ihre spontane Antwort war, ihm zu sagen, dass sie sogar verdammt glücklich war, vielen Dank auch, und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe. Sie wusste, warum er fragte. Ihr Herz sprengte beinahe ihre Rippen, weil er das fragte.
»Manchmal.« Das war alles, was sie aus ihrer zugeschnürten Kehle hervorbrachte. Was für eine matte Antwort! Sie sollte hier gefälligst Stellung beziehen! Was zum Teufel war nur los mit ihr?
»Du scheinst mir jemand zu sein, der ein ziemlich aktives Leben führt.«
»So ist es«, stimmte sie ein wenig entspannter zu. Seine Einschätzung ergänzte das, was sie nicht hatte sagen können. »Und kein normales. Sowohl Job als auch Freizeitvergnügen führen mich durch die ganze Welt. Ich sehe und tue Dinge, die mein Leben sehr … ungewöhnlich machen.«
»Ich verstehe das. Mein Leben ist ebenfalls ungewöhnlich.«
Das konnte sie nicht glauben. Er hatte Vorfahren hier in diesem großen altmodischen Schloss gehabt. Sie spürte, dass er einen großen Kreis treuer Freunde hatte. Er war genau der Typ Mann, der diese Art von Loyalität schuf. Sie musste nur daran denken, wie leicht er ihre Abwehr überwunden hatte, ohne dass sie es überhaupt bemerkte. Das erforderte ein Geschick im Umgang mit Menschen, um das sie ihn beneidete. Das war eine Fähigkeit, die Bindungen und Zuneigung schuf, obwohl sie schon vor langer Zeit beschlossen hatte, dass es ihr besser ging ohne diese Bindungen. Sie konnte sehen, dass er sich nicht schnell jemanden zum Feind machte, und obwohl auch sie versuchte, dies zu vermeiden, passierte es andauernd.
Er hatte gesagt, er sei der Anführer eines Volkes, und das brachte, egal, was es genau bedeuten sollte, Verantwortlichkeiten politischer
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