Schattenwende
ihr ebenmäßiges Gesicht behalten. Es würde sich noch lange keine Falte darauf zeigen, kein graues Haar ihre widerspenstige Lockenmähne durchziehen. Ihr Geheimnis machte sie verwundbar, und als Gefährtin eines Kriegers der Gemeinschaft war Ria sehr viel wertvoller, als sie es sich selbst eingestehen wollte.
„Reagan … Meine Gabe entwickelt sich. Sie wird stärker. Ich hatte die Hoffnung schon längst aufgegeben, dass sich mir mehr als nur verschwommene Bilder zeigen würden. Aber jetzt …“
Ihre flüsternde Stimme verlor sich ins Nichts, als sie den Anführer flehend anschaute. Bei ihrem Geständnis erstarrte Reagan. Ria besaß die Gabe der Vorhersage. Bisher war sie unterentwickelt gewesen und nur selten in Erscheinung getreten. Und sie hatte Ria nur schwammige und undurchsichtige Eindrücke geliefert. Nicht einmal sie selbst konnte die Träume und Bilder, die sie schemenhaft erhielt, richtig deuten. Wenn sich aber nun zeigen sollte, dass sich ihre Gabe ausprägte, könnte das ein wertvoller Gewinn für die Gemeinschaft sein. Denn die Gabe der Vorhersage zeigte nicht nur Geschehnisse der Vergangenheit oder der Gegenwart, sondern auch der Zukunft. Nicht unbedingt eine unausweichliche Zukunft. Sie konnte variieren und man war nicht darin gefangen. Man konnte ausbrechen und die Zukunft ändern. Aber die Visionen zeigten ihren Empfängern doch, auf welchem Weg jemand war und wo dieser ihn hinführen würde. Doch den Visionen zu begegnen und sie zu deuten, erforderte Mut und Klugheit.
Als Reagan sich der Tragweite dieser Erkenntnis bewusst wurde, lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken.
„Hast du gewusst, dass sich diese Explosion ereignen würde?“, fragte er scharf.
Er sah, wie Ria sich unter diesen barschen Worten wand, aber es war ihm gleich.
„Nein“, antwortete sie leise. „Ich habe gesehen, dass du verletzt werden würdest. Und ich habe gesehen, dass ihr in eine Falle hinein laufen würdet. Deswegen habe ich vorgesorgt, damit immer genug Blut im Haus ist, falls das wirklich … falls das wirklich eintreten würde. Ich war mir einfach nicht sicher.“
„Warum hast du mir nichts davon erzählt? Vielleicht hätte ich die Gemeinschaft dann nie in eine derartige Gefahr gebracht!“
Reagan gab sich große Mühe, seine Worte nicht abfällig klingen zu lassen.
Er verachtete nicht Ria, sondern sich selbst für diese Nachlässigkeit.
„Ich kann den Zeitpunkt nicht sehen. Ich weiß nicht, wann etwas eintreten wird. Selbst wenn ich es sehen könnte! Wie sollte ich in der Lage sein, meine Visionen richtig zu deuten, wenn du und Damir mich aus euren Plänen raushaltet?“
Reagan kniff die Augen zusammen.
„Das geschieht nur zu deiner Sicherheit, Ria“, erklärte er ruhig.
„Natürlich.“
Irrte er sich oder vernahm er da einen Anflug von Verbitterung?
Ria bewegte sich einen Schritt auf ihn zu und drückte ihm die Blutreserve in die Hand.
„Vielleicht solltet ihr einmal darüber nachdenken, dass ich keine wehrlose Frau bin. Ich trage nicht umsonst das Symbol der Liya.“
Ria richtete sich stolz auf und blitzte ihn aus ihren Katzenaugen an.
„Wenn ihr mich endlich einbindet, werde ich euch mit all meiner Kraft zur Verfügung stehen. Ich bin verdammt noch mal mehr wert, als dass ich ständig nur als eure Köchin und Wundenversorgerin herhalten darf.“
Anerkennung glomm in Reagan auf. Er hob die geballte Faust und hielt ihr seine Fingerknöchel entgegen.
„Ich verstehe“, brummte er.
Ohne zu zögern erwiderte sie die respektvolle Geste und ein Lächeln glitt über ihre Lippen.
Beide bemerkten die drei Krieger nicht, die sich im Hintergrund versammelt hatten und die Köpfe ehrfürchtig geneigt hielten.
Nachdem sie Halie ins Bett gebracht hatte, kauerte sich Daphne vor dem laufenden Fernseher auf ihrem Sofa zusammen. Lustlos knabberte sie an einem Keks und verfolgte dabei das uninteressante Programm. Eigentlich war sie müde und wollte schlafen, schließlich musste sie morgen wieder früh aus den Federn. Sie zog die Decke um ihre Schultern, als eine kühle Brise durch das gekippte Fenster wehte. Ihr Zimmer befand sich nun im ersten Stock, daher war ihre Angst vor ungewollten Besuchern eigentlich unsinnig. Aber da ihr ganzes Verhalten in den letzten Tagen vollkommen unsinnig gewesen war, spielte das wohl auch keine große Rolle mehr. Sie seufzte leise, als sie durch die Sender zappte. Es lief absolut nichts Sehenswertes. Nicht, dass das etwas Neues gewesen wäre, aber es wäre
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