Schatz, schmeckts dir nicht
von Lösungen und Plänen gebraucht hätte, verschlangen sie ihre Alltagspflichten mit Haut und Haar. Die Kinder, sonst fast schon zu selbständig, suchten ständig das Gespräch mit ihr. Da beide binnen kurzem dem Elternhaus Lebewohl sagen würden, um einige Zeit in fernen Ländern zu leben, entwickelten sie eine schon lange nicht mehr da gewesene Anhänglichkeit. Zum einen rührten sie dieses Zeichen kindlicher Zuneigung und das Gefühl, richtig gebraucht zu werden, zum anderen kam das alles zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt.
Janina wartete jeden Tag auf Post aus Amerika, die endlich enthüllen würde, wo und bei wem sie ihr Schuljahr verbringen würde. Und vor allem würde sich zeigen, ob es geklappt hatte, ihre Freundin Elisa tatsächlich in der Nähe unterzubringen, was natürlich ein hervorragendes Mittel gegen allzu großes Heimweh wäre. Peer, der darum gekämpft hatte, seinen Zivildienst im Ausland abzuleisten, beschlichen plötzlich Zweifel, ob die Entscheidung, nach Kolumbien zu gehen, richtig war. Die Entfernung, der Kulturschock und nicht zuletzt, die lange Trennung von seiner mittlerweile doch sehr festen Freundin Anna. Helene versuchte, ihren Kindern so gut wie möglich gerecht zu werden.
Pflichtgemäß bemühte sie sich auch, mit der Recherche für das Premierenbüffet zu beginnen. Schließlich hatte sie Steinberger versprochen, ihr Bestes zu geben. Und der Schauplatz Orient bot sich für ein buntes, duftendes Büffet in traumhafter, kunstvoller Dekoration ja geradezu an. Doch vermochten selbst die opulenten Bildbände, von marokkanischer bis iranischer Küche, sie nicht genügend zu fesseln. Nur ein Djin aus der Flasche wäre ihr jetzt recht gekommen. Die schlafende Diane wäre auf einem öden Eiland gelandet und der Djin hätte sich nach getaner Arbeit vor Helene verneigt und gefragt: »Was befiehlt meine Herrin jetzt?«
Leider kam kein Djin. Dafür aber eines Morgens ein Brief für Jan, dessen Absender sie als einen seiner alten Studienfreunde identifizierte, mit denen er halb fachlichen, halb privaten Kontakt pflegte. Einmal im Jahr trafen sie sich für ein Wochenende, um sich auszutauschen. Es war ein reiner Männerclub, und Jan hatte noch kein Treffen ausfallen lassen. Wahrscheinlich war dies die konkrete Einladung mit Programm. Sie erinnerte sich dunkel, dass Jan erwähnt hatte, dass es bald wieder so weit sei. Wenn sie Glück hatte, lag der Termin noch vor Pfingsten und sie hätte dann zumindest ein Wochenende für sich, um Ordnung in ihr durcheinandergeratenes Leben zu bringen.
In der gleichen Post fand sich auch eine an Helene adressierte Karte, die in recht kitschiger Manier vor einem griechischen Tempelchen eine spärlich bekleidete Dame mit Pfeil und Bogen abbildete, zu deren Füßen ein erlegtes Reh in seinem Blute lag. Im ersten Moment fühlte sie sich durch das Motiv auf seltsame Art und Weise unangenehm berührt, als sei ihr jemand zu nahe getreten. Doch als sie den Absender erkannte, musste sie unwillkürlich lächeln.
Hans Schmidt, der Unermüdliche, fragte an, ob sie nicht einmal gemeinsame Erinnerungen auffrischen sollten. Unterschrieben hatte er mit ›Dein treuer Jagdgefährte‹. Ihrem demolierten Ego taten diese Zeilen sehr wohl.
Helenes Vermutung war richtig. Jan war zu einem Treffen seines so genannten Baumeisterclubs eingeladen. Es sollte eine Woche vor dem Abflug nach Lanzarote stattfinden. Und er war tatsächlich entschlossen, daran teilzunehmen, nicht zuletzt, weil er sich interessanten Austausch über seine neuesten baubiologischen Erfahrungen versprach. Wie üblich, blieben die Männer unter sich, Diane würde ihn also nicht begleiten. Der Himmel, oder wer auch immer, schenkte Helene eine letzte Chance.
Fast empfand sie diesen Druck, nun eine Entscheidung herbeiführen zu müssen, diesen Zwang zum Handeln als Erleichterung. So war das schon immer mit unangenehmen Aufgaben bei ihr gewesen. Monatelang schob sie deren Erledigung vor sich her. Erst wenn es gar nicht mehr anders ging, biss sie die Zähne zusammen und machte sich ans Werk. Meist begann ihr dann die Sache sogar Spaß zu machen, ja sie erzielte blendende Ergebnisse und fühlte sich danach unendlich erleichtert. Sie war glücklich, wenn die zentnerschwere Last von ihr genommen war und sie sämtliche Hürden mit Bravour genommen hatte – wie neugeboren. Genau der Wunsch nach diesem Gefühl trieb sie jetzt an. Helene schaute versonnen auf Hans’ Karte, die sie hinter den Spiegel geklemmt hatte.
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