Schatzfinder
Deadline ist eine echte Todeslinie, die Linie, die den eigenen Tod markiert. Das ist die einzige Konstante im Leben, das Einzige, das sicher ist, das Einzige, das gegeben ist. Wir wissen zwar nicht, wann wir sterben, aber dass wir sterben ist unser Geburtsrecht. Uns wurde eine ungewisse Zeitspanne vor dieser Linie geschenkt. Sie dauert zurzeit noch an. Alles andere ist ungewiss.
Wir denken immer, warum dann nicht groß?
Wenn wir nun in dieser Situation einen Lebenszweck ausmalen, dann doch bitteschön so groß, dass er auf jeden Fall über die Deadline hinausweist! Alles andere ist doch zwecklos. Wir denken immer, warum dann nicht groß? Ich muss das Leben, wie ich es mir in allen Einzelheiten ausmale, nicht bis zu meinem Tod erreicht und erfüllt haben. Vielleicht ist es nie erreichbar. Das macht nichts. Hauptsache, ich strebe danach.
Es wäre sogar schlimm, wenn ich ins Ziel kommen würde. Ich will nicht, dass es mir so geht wie Boris Becker nach dem Erreichen des Wimbledon-Sieges. Mit 17 war alles vorbei. Er hatte als erster Deutscher, als erster ungesetzter Spieler und als jüngster Spieler aller Zeiten das größte Tennisturnier der Welt gewonnen. Was konnte da noch kommen? Nicht mehr viel, der Höhepunkt war überschritten, alles andere ist nicht der Rede wert – jedenfalls im Vergleich zu diesem ersten Wimbledon-Sieg.
Unserer innerer Rebell soll schreien: Mehr erleben! Mehr Leidenschaft! Mehr Optionen!
Oder wie es die alten Lateiner schon wussten: »post coitum animal triste est« – nach dem Höhepunkt ist das Tier traurig. Den ergänzenden Teil dieses Zitats erspare ich mir hier aus Gründen der political correctness. Nach dem Zieleinlauf gibt es keine attraktiven Optionen mehr. Nein, viel besser wäre es, sicherzustellen, dass wir die Bremsen im Schädel nicht nur bis zum Wimbledon-Sieg lösen, sondern bis an unser Lebensende. Unserer innerer Rebell soll schreien: Mehr erleben! Mehr Leidenschaft! Mehr Optionen!
Im Moment kommen wir allerdings schon mit den armseligen Optionen, die wir haben, nicht zurecht. Mittels Flirt- und Kontaktbörsen ist es kein Problem für eine Frau, zweimal am Tag mit einem Mann essen zu gehen und bei Gefallen den Nachtisch zu Hause zu nehmen. Die Optionen sind unendlich. Das Problem ist überhaupt nicht, einen tollen Mann kennenzulernen, sondern sich für eine der Optionen zu entscheiden oder den vorherigen Mann zu vergessen. Denn wenn sie sich entscheidet, dann weiß sie doch, dass nur einen Mausklick entfernt noch weitere Männer warten. Und sie weiß nicht, ob einer dieser Millionen Männer nicht doch besser wäre als der Kasper, der ihr bei Kerzenschein gegenübersitzt.
Sie kann es ja auch nicht wissen. Es stimmt ja. Und deswegen ist es völlig egal, ob der Kasper die beste oder nur irgendeine Option ist. Es kommt nämlich aufs Gleiche heraus, wenn sie nicht das Leben bei den Hörnern packt. Die Hemmschuhe abstreift. Allesauf eine Karte setzt. Aber die Hemmschuhe sind wie angewachsen.
Ich frage mich: Was braucht es, damit wir unsere selbst gesetzten Grenzen überwinden? Was braucht es, damit wir die Voraussetzungen, die wir glaubten zu brauchen, vergessen und uns stattdessen wieder an unseren Lebenszweck erinnern? Was brauchen wir, um zu denken wie Nick Vujicic?
Nick Vujicic erfüllt die Voraussetzungen für ein erfülltes Leben einfach nicht. Er kann nicht gehen, er kann sich nicht allein anziehen, er kann sich nicht einmal den Löffel in den Mund schieben. Nick ist mit einem seltenen Gendefekt auf die Welt gekommen: Er hat weder Arme noch Beine.
Auf der integrierenden Schule, auf die ihn die Eltern schickten, um ihm ein möglichst normales Leben zu ermöglichen, wurde er gehänselt ohne Ende. Er wurde immer apathischer und litt unter Depressionen. Als er zehn war, versuchte er, sich umzubringen. Er ließ sich ins Wasser fallen, aber irgendetwas hielt ihn ab vom Ertrinken.
Als er begann, seine Behinderung nicht mehr als Strafe Gottes, sondern als Herausforderung, als Aufgabe anzusehen, die ihm geschickt worden war, weil er derjenige war, der in der Lage ist, diese Bürde zu tragen, änderte sich sein Leben radikal. Plötzlich machte alles Sinn. Er ging von nun an motiviert zur Schule, dann zur Universität, machte einen Abschluss in Rechnungswesen und Finanzplanung, fing an, in Firmen und vor Schülern Reden zu halten. Einer der Sätze, der in diesen Reden ab und zu fiel: »Ich hoffe, dass ich einmal eine Frau finde, die Gott für mich auserkoren hat.«
Heute
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