Schatzfinder
haben wir uns wegen Mordes an der Fantasie zu verantworten.
Ich habe mich als Kind gewundert, warum Kinder oder Jugendliche so schlimm sind. Ich kann mich noch erinnern, als ich vor Schmerz und Erschrecken zusammengekrümmt auf dem Schulboden lag, weil mir gerade einer meiner Klassenkameraden oder Freunde einfach so mit der Faust in den Magen oder in die Hoden geschlagen hatte. Nicht etwa, weil er etwas gegen mich hatte, einfach so, weil man das wohl gegenseitig so tat – auch wenn ich es nie verstanden habe.
Gut, das sind Kinder, könnten Sie sagen. Unsere Bilder von der Wirklichkeit werden doch immer realistischer, je älter wir werden. Aber ist das wirklich die Realität?
Wir Menschen haben nicht die Fähigkeit, die Möglichkeiten zu sehen, ohne unsere Meinung darüber.
Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen.
Das Wort »realistisch« ist ein gutes Versteck vor dem visionären Denken.
Vorstellungskraft ist die Vorschau auf die kommenden Attraktionen des Lebens. Wir haben es wirklich verlernt, fantasievoll zu sein. Wir sind Mörderder Fantasie geworden. Durch das Wiederkäuen und Wiederdenken von Bekanntem und Bewährtem haben wir uns wegen Mordes an der Fantasie zu verantworten. Wir können das große Bild nicht sehen. Wir Menschen haben nicht die Fähigkeit, die Möglichkeiten zu sehen, ohne unsere Meinung darüber. Wir sehen die Gegenstände, wir verbinden sie mit unseren Meinungen und sehen nur ein geschwärztes Abbild dieser Realität. Vorstellungskraft ist wichtiger als Wissen. Denn unser Wissen ist begrenzt, während die Vorstellungskraft die gesamte Welt umfasst, den Fortschritt stimuliert und evolutionäre Prozesse ins Leben ruft. Das Leben ist wie ein Monopoly-Spiel, und wir bauen Häuser und Hotels, aber keine Schlösser und Burgen. Das Wort »realistisch« ist ein gutes Versteck vor dem visionären Denken. Wer realistisch denkt, denkt meist nur in den Möglichkeitsformen der Vergangenheit, und damit ist ein Durchbruch nicht möglich. All das, was wir im Leben bisher erlebt haben, ist die Vorbereitung auf die Frage »Was ist wirklich möglich?«. Das Leben ist ein begrenztes Spiel, es ist Ihre Entscheidung, ein leidenschaftliches oder ein langweiliges Leben zu führen.
Ich ertappe mich selbst immer wieder dabei, wie ich vom großen Briefing ablese. Ich erinnere mich beispielsweise noch an die Zeit, als ich ein wunderschönes Bild von meiner Hochzeit mit Farah Fawcett im Kopf hatte, die irgendwann stattfinden wird. Ein Engel für Hermann … Was habe ich getan? Ich habe das Bild vergessen. Eh unrealistisch. Spinnerei. Bleib mal auf dem Teppich … Nun ist Farah tot, und ich frage mich, warum mich das so traurig macht.
Ja, auch als Erwachsener könnte man Autos mit fünf Rädern malen. Die einen tun es nicht, weil sie gebunden sind: Frau, Job, Kinder, Bausparvertrag … das große Briefing eben. Die anderen, die an nichts gebunden sind, tun es auch nicht … warum eigentlich nicht?
Einer rief mich neulich an: »Scherer, um Gottes Willen! Ich habe alles verloren! Hilf mir!«
»Ja, was hast du denn verloren?«, fragte ich. »Alles. Es ist alles futsch. Mein Job. Meine Frau. Das Haus. Die Kinder. Alles weg. Scherer, mein Leben ist zerstört!«
»Aber du bist doch noch am Leben oder?«
»Ja, schon.«
»Und du bist frei! Völlig ungebunden! Du kannst machen, was du willst! Das ist die beste Situation, die du überhaupt haben kannst. Freier geht’s nicht! Gratuliere!«
Da war er still. Und musste erst mal überlegen. Sollte er sich vielleicht ein Bild malen?
Ich glaube, dass die meisten von uns ihre Vorstellung von ihrem Leben nicht in sich tragen. Sie haben etwas anderes im Kopf, nämlich das große Briefing. Wer auch immer es geschrieben hat, sie selbst waren es nicht.
De-briefing
Das mit dem großen Briefing lässt sich auch noch anders sehr schön beschreiben. Stellen Sie sich vor, Sie haben ein buntes Blatt Papier. Das ist Ihr Leben, so wie Sie es sich ganz naiv zurechtgemalt haben. So, und dann nimmt Ihnen jemand das Papier aus der Hand und faltet es zusammen. Einmal, zweimal. Das Bunte ist nicht mehr zu sehen, Sie sehen nur noch die weiße Rückseite des Papiers, und das auch noch in immer kleineren Ausschnitten. Denn das Papier wird weiter zusammengefaltet. Dreimal, viermal, fünfmal. Dann wird es schon schwierig mit dem Falten, weil der Falz zu dick wird. Sechsmal. Am Ende bleibt nur ein kleines, schweres zerdrücktes Papier übrig; das bekommen Sie dann wieder in die Hand
Weitere Kostenlose Bücher